MAGAZIN FÜR MACHER

DEIN WERK

Offizieller Kooperationspartner des Unperfekthauses

Vor einiger Zeit bekam ich eine Mail von einem Klassenkameraden: „Bin pensioniert, jetzt kann ich endlich tun und lassen, was ich will!“ Na, was denn? Als erstes nennt er sein Hobby, die Modelleisenbahn im Keller, dann kommt die Familie, er hat vier Kinder im erwachsenen Alter, die wiederum Kinder haben, und die lieben ihren Opa über alles. Bleibt da noch Zeit übrig? Nun, da wäre noch der örtliche Kunstverein …

Reden wir hier von einem typischen Fall? Dann wäre das Thema ja weitgehend erledigt. Aber keineswegs, denn was vor etwa 50 Jahren typisch gewesen sein mag, ist es heute beileibe nicht mehr. Insbesondere in der Großstadt haben viele Paare nur ein Kind, und das lebt, wenn es denn auf eigenen Füßen steht, nicht selten kinderlos in einer anderen Stadt. Die Enkel-Generation ist in unserer Gesellschaft zu einer Minorität geworden. Da man nur noch ab und zu zusammenkommt, muss der Tag tatsächlich in der Regel von Grund auf anders und neu gestaltet werden. Nicht allen  gelingt diese Umstellung gleichermaßen gut, ein Betriebsleiter wird bspw. mit den Worten zitiert: „Was mich am meisten verletzt … ist der Umstand, dass ich so bedeutungslos geworden bin.“ (Ch. Bühler, Psychologie im Leben unserer Zeit, 302)

Nun, andere, vor allem die, die mit einem harten körperlichen Einsatz entfremdete Arbeit verrichten mussten, waren froh, nicht mehr „malochen“ zu müssen. Im Ruhrgebiet, im Pott, da arbeitete der Kumpel in der Zeche solange, bis er nicht mehr konnte, weil die Staublunge die Arbeit unter Tage nicht mehr zuließ, man wurde dann „kaputt geschrieben“, und danach war vielleicht im eigenen Schrebergarten noch das ein oder andere zu tun, dann hatte man vielleicht noch als Hobby die Brieftauben, aber mehr war nicht! Und wenn die Luft über der Ruhr stickig wurde, und das war sie bis in die 60er Jahre hinein noch oft, musste zu der Sauerstoffflasche gegriffen werden, und weil es langweilig war, schaute man halt aus dem Fenster. Fünf, vielleicht zehn Jahre hatte dieser Kumpel vielleicht noch vor sich, dann war er „weg vom Fenster.“ Dass ihm noch ein paar Jahre vergönnt waren, das war immerhin schon ein Fortschritt: Im Jahre 1910, also in Zeiten seines Großvaters, lag die durchschnittliche Lebenserwartung nämlich bei den Männern bei rund 45 Jahren, Frauen lebten nur drei Jahre länger. Wie anders tritt heute der Rentner in der Regel aus dem Arbeitsleben – zum Glück ist er meist noch recht rüstig. Schon vor 25 Jahren standen dem Rentner rund 15 Jahre als weitere Lebenszeit zur Verfügung, die sich bei den Männern bis heute immerhin auf rund 18 Jahre ausgedehnt hat, wobei der Abstand zu den weiblichen Kolleginnen in etwa gleichgeblieben ist.

Die Sinnfrage stellt sich also historisch neu und frei nach Saint-Exupéry: „Es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, was uns verbraucht, sondern als etwas, was uns bereichert.“ Noch nie in der Geschichte der Menschheit war es alten Menschen in der Breite vergönnt, das Alter so lange und mit so vielen Möglichkeiten zu gestalten, wie heute. Und es spricht vieles dafür, dass sich dieser Raum der freien Selbstbestimmung in Zukunft, zumindest hier bei uns in Westeuropa,  noch weiter ausdehnen wird. Vom Zuverdienst, über die Intensivierung geliebter Hobbys bis hin zur aktiven Aufnahme ehrenamtlicher Aufgaben eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, aber es sind auch Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen – das alles hält den Geist fit. Viele wollen auch alte  Träume wiederaufleben lassen – und da gibt es großartige Beispiele,  nehmen wir z. B. den brasilianischen Fotographen Selgado, der im Alter auf seinem elterlichen Grund ein riesiges Aufforstungsprogramm auf den Weg gebracht hat, weil er der Natur wieder das zurückgeben wollte, was ihr die vorherige Generation durch Raubbau weggenommen hat. Was die Energie und die kognitiven Fähigkeiten angeht, wurden jedenfalls früher ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger, weil sie hier und da tüttelig erscheinen, nicht selten unterschätzt. Inzwischen weiß man, es gibt im politischen Raum wichtige Funktionen, selbst Kanzler und Präsidenten, die weit über 70 sind. Politik hat viel mit Macht zu tun, so kann ein alternder Tyrann uns sicher nicht zum Vorbild dienen.  Aber es gibt eine Sportart, da spielt nur das geistige Können eine Rolle. Der vor etwa 15 Jahren  verstorbene Schachspieler Kortschnoi wurde noch mit 75 Jahren unter den 100 besten Schachspielern der Welt (!) gelistet (für Kenner: Mit ca. 77 Jahren erreichte er noch einmal einen erstaunlichen  ELO-Wert von ca. 2640), ein Beweis, dass sowohl das Gedächtnis wie die Fähigkeit zu komplexem Denken bis ins 80ste Lebensjahr und darüber hinaus erhalten bleiben kann – wenn man dem Geist die nötige Nahrung gibt. Diese Erkenntnis ist inzwischen gesichertes Wissen: Die sogenannte kristalline Intelligenz, also die Intelligenz, die mit Erfahrung und dem Denken in Zusammenhängen zu tun hat, die bleibt sehr lange erhalten, und sie ist trainierbar, selbst bei Personen, die das 80ste Lebensjahr erreicht haben. Und wer das tut, lebt in aller Regel auch zufriedener, hat ein erfüllteres Leben  – wer anders als der im Alter von 76 Jahren verstorbene berühmte Wissenschaftler Stephen Hawkings kann uns allen als  Leuchtturm dienen: Er, der aufgrund einer tückischen Muskelerkrankung körperlich extrem eingeschränkt war, schrieb im hohen Alter nicht nur phantastische populärwissenschaftliche Bestseller, er reichte noch in seinem letzten Lebensjahr zusammen mit drei Wissenschaftskollegen eine wissenschaftliche Abhandlung über die physikalische Eigenschaft von Schwarzen Löchern ein. Sie wurde posthum im Oktober 2018 veröffentlicht. Chapeau.

Grandma Moses, die schon zu Lebzeiten eine Legende gewesen war, weil sie erst mit 67 Jahren zu malen anfing und mit 90 Jahren damit in den USA berühmt wurde – sie starb erst mit 101 Jahren – fasste ihre Lebensweisheit wie folgt zusammen: „Auf mein Leben blicke ich zurück als auf ein gutes, vollendetes Tagewerk … Ich … habe das Beste aus dem gemacht, was mein Leben bot. Und das Leben ist, was wir aus ihm machen.“ (Bühler ebd., 305) Damit wird sie auch Hawkings aus der Seele gesprochen haben.