Schwache Politiker und fehlende Konzepte
Der Schock, den wir durch den großen Krieg in Europa im XXI. Jahrhundert erleben müssen, wirkt erfrischend. Das schwammige Gefühl, dass etwas nicht stimmt, stammt aus den Zeiten von wenig Nachdenken, Zeiten von „Alles gut.“ Jetzt, wo genau das passiert, was nicht passieren durfte, und genau das nicht funktioniert, was funktionieren muss, kommt die schmerzhafte Schärfe ins Bild.
Als ich einen Politologen vor Kurzem gefragt habe, welche Funktion der Generalsekretär der UN, Gutierrez, bei dem Treffen in Lviv mit Selenskyj und Erdogan erfüllt, lautete die Antwort: „Da sein und Generalsekretär der UN spielen.“ Als Nächstes könnte man logischerweise fragen, welches Konzept die Organisation UN heute als Basis nutzt und welche Strategie sie verfolgt …
Ein solches Beispiel konnte nicht alleine die westliche Politik liefern. Fehlende Konzepte und fehlende Persönlichkeiten gehören auch im Nahen Osten (schauen Sie sich die Wahlen in Israel an) zu den aktuellen Problemen. Ebenso sind die Ukrainer, die heute so vereint und effektiv um gemeinsame Zukunft kämpfen, von ähnlichen Herausforderungen nicht frei. Die Ukraine hat ihren Mann für die Kriegszeit gefunden, doch was ist danach: Wer und was sollte zu dem Wegweiser der ukrainischen Nation werden? Welche Idee wird die Nation für die nächsten Jahrzehnte vereinen? Nach Fragen kommen Fragen und es ist wichtig, sie zu stellen, auch wenn dafür noch keine Antwort gefunden werden kann.
Sind die großen Politiker für immer verschwunden?
Der Mangel an großen Persönlichkeiten in der Spitzenpolitik war bereits seit einiger Zeit weltweit offensichtlich. Man findet sie kaum, sucht nach Beispielen in der Vergangenheit, erinnert sich wieder an Winston Churchill, Margaret Thatcher, Ronald Reagan. Man braucht sie wieder – die großen Persönlichkeiten.
In den gemütlichen Jahrzenten, ohne für die westliche Welt bedeutende Kriege und Seuchen konnte ein Spießbürger mit solchen Menschen wenig anfangen. Es war der breiten Masse gar nicht bewusst, wie sehr die Gesellschaft sie braucht und sogar, dass überhaupt. Man hat sich mit den „Managern“ in den Regierungssesseln zufriedengegeben, – echte Politiker gehören der Vergangenheit an.
Vielleicht wirkte hier ein Naturgesetz – was nicht gebraucht wird, gibt es auch nicht. Schließlich können wir im täglichen Leben beobachten, wie unsere Muskeln ohne wiederkehrende Belastungen verschwinden, professionelle Qualitäten ohne Anwendung nachlassen. Die Anthropologen stellen sogar fest, dass die Gehirnmasse je nach ihrem Gebrauch im Laufe von mehreren Generationen entweder wächst oder schrumpft.
Das Gute daran: In Notsituationen zaubert die Natur. So schickte das Leben einen Funken, in der hoffnungslosen Lage, in welcher die Ukraine sich in den ersten Tagen nach Überfall befunden hatte, der praktisch über Nacht in einem Mann eine wesentliche Transformation bewirkte und ihn zu einer Schlüsselfigur machte. Selenskyj zeigt Charakter und gibt der unabhängigen Ukraine eine Chance. Die gewaltigen Konsequenzen dieses Akts für die ganze Welt beflügeln ihn und schließen seine Transformation zu einem starken Krisen-Politiker ab.
Auch in dem durch Krisen erschütterten England wird es ungemütlich. Die Ukraine-Krise verstärkt die Herausforderungen, welchen Briten sich stellen müssen – neue Aufgaben, mit welchen auch Boris Johnson stark gewachsen ist. Die Suche nach einem außenpolitischen Konzept für das Vereinigte Königreich begleitet die Gestaltung seines politischen Profils.
Brauchen wir Konzepte oder reichen die Strategien?
Die Welt braucht nicht nur die Persönlichkeiten, die in heiklen Momenten die Ruder herumreißen und so das Schiff vor Katastrophen retten, sie braucht Nationalideen, Konzepte, Kultur, welche die Gesellschaft vor solchen Katastrophen bewahren, indem sie der gesellschaftlichen Entwicklung eine Basis und eine Richtung geben. Denn die Menschheit ist in der Regel verwirrt – das liegt in der Natur unseres Wesens. In dieser Welt fühlen wir uns verloren. Wer das Ganze positiver sehen will, kann das Wort verloren durch das Wort suchend ersetzen.
Man erinnert sich vielleicht an Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, worin die vornehme Gesellschaft rund um Diotima sehr mühsam nach einer besonderen Mission, nach einer Bedeutung sucht und nicht findet. Dies spielt sich in einer besonderen Zeit ab, die Zeit eines Epochenwechsels, die Zeit des Zusammenbruchs. Die große Zeit der Habsburger, ist vorüber… Man braucht eine neue Vision.
Die Zeitenwende, die wir gerade erleben, verlangt nicht weniger. Schon längst leiden westliche Kulturen am Verlust einer tragenden Achse, – eine verwirrende Zeit, vorausgesetzt, man denkt ernsthaft darüber nach.
Doch auch ohne zu grübeln: Unterschwellig ist die Notwendigkeit eines Konzepts in jeder Gesellschaft präsent und je nach Situation unterschiedlich akut. Die Religion, die immer eine wesentliche Rolle in westlichen Nationalideen spielte, verliert in unserer Gesellschaft an Bedeutung. Sogar der Vatikan tritt, milde gesagt, „extravagant“ auf. Die Monarchien, welche als schöne Tradition und kulturelle Basis weiterleben könnten, werden zu blamablen Institutionen.
Gewiss: Das Kommen und Gehen gehören zum Leben. Wir werden sehen, was nach diesem großen Gehen kommt.

Gibt es Konzept für die Ukraine?
Obwohl die Ukraine momentan ums nackte Überleben kämpft: Es ist keineswegs die falsche Zeit, an das Leben nach dem Krieg zu denken.
Ein existenzieller Bedarf nach einem grundlegenden Konzept für die Nation zeichnete sich schon bei der Abspaltung des Landes von der Sowjetunion ab. Die monströse, autoritär gestaltete USSR war alles andere als menschenfreundlich. Freiheit galt da als Fremdbegriff. Nichtsdestotrotz lieferte die Kommunistische Partei ein auf Marxismus aufgebautes Konzept, eine Idee. Sie war zynisch missbraucht, konnte aber trotzdem 70 Jahre lang mal schlechter, mal besser ihre Funktion erfüllen.
Der naive Versuch Putins, Russland in die Vergangenheit zurückzutreiben und die Teile der sowjetischen Ideologie mit seinem Regime unter neuen Bedingungen zu versöhnen, ist katastrophal schief gegangen. Es gibt gar kein Konzept mehr. Die Föderation wird nicht, wie er träumt, zu einem Imperium – eher wird sie zerfallen.
Hat nun die Ukraine eine Achse, ein überlebenswichtiges Rückgrat? Kann das eine nationalistische Idee sein? Eine solche ukrainische Idee bräuchte ihre Helden und ihre Geschichte.
Die Geburt der unabhängigen Ukraine im Schatten der großen Nachbarn (Russland, Österreich-Ungarn, Preußen, Rzeczpospolita), aber auch ihre spätere geopolitische Entwicklung wie die Entstehung der Sowjetunion und der zweite Weltkrieg, machte die Freiheitskämpfer und Nationalisten zu Schlüsselfiguren der Nation, denen das Volk seine Unabhängigkeit verdankt.
Nichtsdestotrotz war ein großer Teil des Volkes mit der Positionierung von z. B. Bandera als Vater der Nation schlecht bedient. Das Image solcher Figuren, besonders im Osten des Landes, ist sehr umstritten. Das nutzt Moskau verstärkt für seine Propaganda. Offensichtlich braucht man hier einen Kompromiss und eine nachhaltige Orientierung. Die Ausgangssituation ist problematisch.
Heute, in diesem Krieg, werden zweifellos neue Helden geboren – die Kämpfer fürs Überleben des Landes und des Volks. Aber sogar diese Komponente reicht nicht für eine solide ideologische Basis.
Ein riesiger Teil der russischsprachigen Bevölkerung ist historisch bedingt Träger der gleichen Kultur, welcher vom russischen Aggressor für seine Propagandaziele schamlos ausgenutzt und so kompromittiert wird. Es ist Krieg und Russisch ist die Sprache des Feindes. Für die ukrainischsprachige Bevölkerung nicht unbedingt ein Widerspruch, für viele ein Grund mehr, warum die Denkmale von Pushkin oder Tolstoy in ukrainischen Städten nichts zu suchen haben.
Anders sieht es für die Ukrainer aus, die zu Russland sehr kritisch stehen, bereit sind, für die Ukraine zu kämpfen, trotzdem aber keinen Grund sehen, warum das Erbe von russischen Schriftstellern, Komponisten und Malern aus ihrem Leben verschwinden soll. Und die größte Frage überhaupt – was kommt stattdessen? Die ukrainische Kultur hat einiges zu bieten, doch mit welchem Teil dieses Angebots sind beide Teile des Landes einverstanden?
Diese Problematik ist vielen ukrainischen Politikern bewusst. Klar ist auch, dass Philosophie und Religion in solchen Konzepten nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Besonders in der Zeit, wo die ukrainische Kirche sich vom Moskauer Patriarchat trennen muss **.
Immer wiederkehrendes Thema in unterschiedlichen Publikationen ist die Suche nach einer neuen vereinenden Nationalidee für das ukrainische Volk. Dazu gehört sicherlich auch die Suche nach großen Vorbildern und deren Weltanschauung.
Der Ukraine fehlt es nicht an bedeutenden bikulturellen Figuren. Bei näherer Betrachtung und angesichts der heute äußerst angespannten Lage zwischen den Völkern finden sich aber häufig Details, die eine Integration dieser Protagonisten in die neue ukrainische Kulturwelt zunichte machen.
So bedarf das Kulturerbe sowohl von Nikolay Gogol als auch Michail Bulgakow einer vorsichtigen Integration in das ukrainische Konzept. Schließlich war der Ukrainer Gogol trotz seiner brillanten Literaturwerke, schöner, romantischer Beschreibungen des ukrainischen Alltagslebens, ein Verehrer des russischen Imperialismus. Der in Kiew geborene und aufgewachsene Bulgakow spottet gar über die ukrainische Kultur in seinem Roman „Weiße Garde“. Außerdem ist eine bikulturelle Akzeptanz kein Alleinstellungsmerkmal und ist als Konzeptbasis ungeeignet.
Eine solche Basis könnte der ukrainische Philosoph Gregorius Skoworoda bieten – meint der Berater des Selenskyj-Office, Oleksiy Arestovich. Und tatsächlich, abgesehen vom explosiven politischen Stoff, welchen umstrittene Persönlichkeiten von Stepan Bandera oder Symon Petljura mit sich bringen, ist Skoworoda eine Figur aus einem ganz anderen Lebensnarrativ. Ist das ein Narrativ, in welchem auch die heutige Ukraine (Osten und Westen) vielleicht eine bessere Zukunft hätte?

Besonders interessant ist das Vorbild von Skoworoda in folgendem Aspekt: In seiner christlich basierten Glaubenslehre und in seinen literarischen Werken behandelt Skoworoda (1722-1749) intensiv den Begriff von Glücklichsein im Gegensatz zu christlich-orthodoxer Praxis, wo die Frömmigkeit eine beherrschende Rolle übernimmt. Der Weg zum Glück, nach Skoworoda, kann nur dann gefunden werden, wenn Mensch in seinem Leben und Beruf seiner Bestimmung folgt. So werden wir glücklich und frei. Diese Einstellung ist dem russischen orthodoxen Glauben, genauso wie dem russischen Staat, völlig fremd. Da muss man dem Zaren und Vaterland dienen – das Glücklichsein ist unwichtig.
Trotzdem wird Skoworoda in der russischen und ukrainischen Kultur anerkannt, in seiner Biografie gibt es eine lange Periode, die er in Sankt Petersburg verbracht hat. Seine Präsenz in beiden Kulturen könnte eine konsolidierende Rolle spielen und gleichzeitig eine neue unabhängige ukrainische Nationalidee formen. Die „Frei-Und-Glücklich-Formel“ würde mit der durch den Kosakengeist geprägten Vergangenheit der freien Ukraine ebenso gut wie mit dem Siegeswillen der heutigen ukrainischen Bevölkerung harmonieren.
Wann dieser Krieg endet, und ob ein großes Umdenken zu einem neuen Konzept stattfindet? Wird die Welt von G. Skoworoda zum Teil dieses Konzepts? Kommen vielleicht andere Ansätze zum Vorschein? Alles ungewiss. Der Freiraum ist geschaffen …
* Oleksiy Arestovich: Berater im Selenskyj-Office, Militär-Experte und ehemaliger Geheimdienstoffizier, aber auch Schauspieler und sehr gebildeter Mann mit Interessen in den Bereichen von Psychologie, Philosophie und Geschichte.
In der Ukraine nennt man ihn scherzhaft „Psychotherapeut des Volkes“. Seit Februar dieses Jahres berichtet Alexey der ukrainischen Öffentlichkeit über das Kriegsgeschehen, – immer mit leiser, ruhiger Stimme und immer mit positiver Einstellung. Die Objektivität soll an dieser Einstellung nicht leiden – eine Kunst, welche jetzt sehr gebraucht wird. Interessierte Russisch- und Ukrainischsprachige finden im Netz auch viele tiefsinnige Beiträge und Interviews zu dieser essenziellen Thematik – nicht alle bei der breiten Masse populär.
In einem von seinen letzten Interviews hat Arestovich auf Nachfrage seines Interviewpartners bekannt gegeben, dass er nach dem Ende der Amtszeit des Präsident Selenskyj (und im Fall, dass Selenskyj nicht bei den nächsten Präsidentenwahlen kandidiert), selbst als Kandidat antreten würde.
** Die orthodoxe Kirche ist durch zwei Institutionen vertreten: die Orthodoxe Kirche der Ukraine (PCU) und die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOC)(SE: weg: ,, stattdessen einen Punkt.)
Die PCU erhielt die Autokephalie vom Patriarchat in Konstantinopel bereits im Jahr 2019.
Die UOC verließ das Moskauer Patriarchat in 2022 am Anfang des Krieges.