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Ein Essay auch für Nichtspieler

Schach ist ein Spiel mit einer langen Tradition. Es gab diverse Varianten, bis es sich in Europa und der Neuen Welt zu dem entwickelte, wie wir es kennen. Ursprünglich gab es bspw. keine Dame auf dem Spielfeld, und die Hauptfigur, die wir als König bezeichnen, war ggf. der Sultan oder schlicht der General oder der Feldherr, ihm wurden männliche Figuren beigestellt, z. B. ein Wesir oder ein Mandarin, der auch nur gemächlichen Schrittes marschieren und wenig Wirkung entwickeln konnte.

Schach arabische Figuren

Links: chinesisches Schachpaar. Rechts:Sultan und Wesir. Foto: T.Weden

In Europa wandelte sich das Spiel früh. Hier gab es den König, der seine Königin bzw. seine Dame an seiner Seite hatte, und diese Dame wurde bereits vor mehr als fünfhundert Jahren zu der alles beherrschenden Schwerfigur, wie sie heute noch gespielt wird. Verliert man sie, dann muss man schon über einen Turm, einen Läufer und einen Springer verfügen, um ihr gerade so Paroli bieten zu können. Vordergründig mag man bei dieser Umgewichtung vor allem spieltechnische Motive im Auge gehabt haben, denn das Spiel gewann dadurch ungleich an Dynamik; aber das scheint nicht die ganze Erklärung zu sein.

Die Regeln blieben über die Jahrhunderte, und es wurde das Königsspiel, das schon im 18. Jahrhundert vornehmlich im Adel vermehrt auch Frauen für sich entdeckten.

Seine Hochzeit hatte es dann in das 20. Jahrhundert bis vielleicht in die 70er Jahre hinein, als damals bspw. der Schachmeister von New York als Profi noch von seinem Spiel leben konnte. Das ist passé.

Dennoch, die Faszination dieses Spiels ist geblieben. Wenn man bspw. durch die Gassen der Altstadt von Shanghai flaniert, dann trifft man gelegentlich am Rand der Marktstände zwei Spieler, die versonnen über ein Brett gebeugt über den besten Zug nachdenken.

Die chinesische Variante

Foto: T.Weden

Als Europäer muss man allerdings zweimal hinschauen, weil die Aufsicht so ganz anders ist als beim europäischen Schach. Am meisten fällt auf, dass es keine Figuren gibt, sondern mit chinesischen Schriftzeichen beschriftete Holzplättchen gezogen werden. Die Symbolschrift reichte den Chinesen über die 2000 Jahre, seitdem das Spiel existiert. Und auch der Spielcharakter ist anders: Da ist eine Burg, in dem sich der General, beschützt vom Mandarin, bewegen, aber diese nicht verlassen darf. Dann haben wir keine Türme, sondern Elefanten und sogar Kanonen, alles in allem ist das Spiel sehr militärisch ausgelegt. Dass man erst einmal den mittig gelegenen Grenzfluss, den Gelben Fluss, überqueren muss, um den gegnerischen General gefangen nehmen zu können, das verweist auf seinen Ursprung, als China in zwei Herrschaftsgebiete aufgeteilt war. In einer legendären Schlacht im Jahre 202 v. u. Z. besiegte das Han-Reich seinen Gegner auf der anderen Flussseite. Die Regeln haben sich bis heute in diesem einzigartigen Kulturraum weitgehend über die 2000 Jahre tradiert. Man vermutet, dass es noch heute eine halbe Milliarde Anhänger hat. Kinder lernen es meist seit Generationen schon in jungen Jahren spielerisch von den Eltern oder Großeltern. Anhänger vermuten, dass es über die Jahrhunderte hinweg auf diese Weise ähnlich wie beim Go eine Wechselwirkung zwischen diesem Denksport und der Intelligenzentwicklung im Volke gegeben hat.

Wie beim Go auch gibt es in Europa relativ wenige, die die chinesische Schach-Version kennen oder gar spielen können, und wer weiß schon, dass 2015 die offizielle chinesische Schach-Weltmeisterschaft in München ausgerichtet wurde, an der auch begeisterte Europäer teilnahmen.  Alle hatten großen Spaß, nur am Ende hatten sie kaum eine Chance. Der beste Nichtasiate war der deutsche Radiologe Michael Nägler, er belegte Platz 29 (vgl. de.chessbase.com).

Eine Lehre, die man daraus zu ziehen hat: Wer zu spät einsteigt und nicht im kulturellen Umfeld aufwächst, der hat es offensichtlich schwer, in das Spitzenfeld zu gelangen. Dies gilt natürlich für beide Geschlechter gleichermaßen, so war auch bei den Frauen die chinesische Übermacht erdrückend. Dass wir in Europa uns mit diesem exotischen Spiel schwertun, mag u. a. daran liegen, dass die Chinesen auf Schachfiguren verzichten.

Akkulturation auf höchstem Niveau

Anders verlief es hingegen mit der Adaption des europäischen Schachs, die den Asiaten offensichtlich umgekehrt keineswegs schwerfiel. Die chinesischen Kolonien in den verschiedenen Ländern von Singapur über die USA bis in Europa kapselten sich nicht ab, sondern nutzten zielstrebig Chancen, die das jeweilige Gastland ihnen bot. Was vom Westen kam, wurde nicht gleich abgelehnt oder verteufelt, sondern es wurde geprüft, was es taugt und was sinnvoll übernommen werden kann.

 

Und insbesondere taten sie es da, wo sie ohne die Fesseln im Mutterland politisch wirken konnten: in Singapur. Ein besseres Beispiel gibt es nicht. In Singapur konnten sie zeigen, wozu sie in der Lage waren: Aus einer abgewirtschafteten britischen Kolonie ähnlich dem Gaza-Streifen in Palästina entwickelten sie ab den 50er Jahren innerhalb von zwei Generationen den modernsten Stadtstaat der Welt.

So entdeckten sie auch das Schach für sich, das als Seismograph für die kognitive Leistungsfähigkeit eine weitere interessante Facette aufweist: Die erfolgreichsten Chinesen im europäischen Schach sind nämlich die Frauen, die bereits Anfang der 90er Jahre die Dominanz ihrer russischen Konkurrentinnen abgelöst hatten und seit zehn Jahren mit zwei kurzen Unterbrechungen die Weltmeisterin im Schach stellen. Wir beobachten hier eine Akkulturation auf höchstem Niveau. Es lohnt, den Gründen für diesen fulminanten Erfolg nachzuspüren und man darf annehmen, dass es u. a. die Grundkonstruktion dieses Strategiespiels ist, bei dem die Dame eine so wichtige Figur geworden war. Jedenfalls reiht sich die Erfolgsgeschichte der chinesischen Frauen in die der weiblichen Emanzipationsbewegung ein. (Bild 3: chinesisches Schachpaar, etwa 70er Jahre)

Kulturgut  im Widerstreit und Lackmustest

Und über eine weitere Facette ist hier zu reden. Dieses Spiel wird zu einem Lackmustest der verschiedenen Kulturen. In der open mind – Skala gibt es auch heute noch Gesellschaften, die nahe bei 0 gerankt sind, mit Folgen: Steckt eine Gesellschaft in einem religiös-ideologischen Prokrustesbett, wird viel an gesellschaftlicher Kreativität erstickt.

Während die Chinesen im Ausland recht erfolgreich sind, beobachten wir immerhin im Mutterland einen allmählichen Öffnungsprozess, der schmerzhaft ist, weil die politisch herrschende Klasse ganz profan den Machtverlust fürchtet. Aber es gibt Bewegung. In Arabien und im Iran gestaltet sich dieser Prozess hingegen viel zähflüssiger. Ideologisch beharrender ist er insbesondere in den Regionen, wo Religionsführer mit einer doktrinären Interpretation des Islams im Zentrum des politischen Machtgefüges stehen. Für den höchsten saudischen Geistlichen, den Großmufti Scheich Abdul-Aziz al-Sheikh, ist Schach ein Werk des Teufels, ein „Glücksspiel“, das Gott verboten hat. Und weil er es so aus dem Koran ableitet, hat er es mit einer Fatwa belegt, jüngst geschehen im Jahre 2016. Wenngleich sich Schiiten und Sunniten seit dem tragischen Schisma vor über tausend Jahren bis heute unversöhnlich gegenüberstehen, so scheint sich die oberste Geistlichkeit in dieser Frage immerhin einig: Der Großajatollah Ali al-Sistani, der bedeutendste Schiitenführer im Irak, hat aus den gleichen Gründen Schach für verboten erklärt, weil es „unislamisch“ sei. Die Etikettierung „unislamisch“ gleicht einer Verteufelung des Andersseins. Die Fatwa gegen Schach reiht sich hier in eine unselige Praxis der Verdammungen ein. Bis heute werden Menschen, die im muslimischen Glauben aufgewachsen sind, sich aber zu einem anderen Glauben bekennen möchten, mit dem Tode bedroht (Apostasie). Der Tötungsaufruf qua Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, vor über 30 Jahren ausgesprochen, ist bis heute wirkungsmächtig. (Statt die Fatwa für nichtig zu erklären, erhöhte der Iran übrigens in 2002 noch einmal das Kopfgeld auf 3.3 Mio. Dollar!)

Will man kreatives Potential und open mind fördern? Dann braucht man ein anderes kulturelles Umfeld, in dem die Freiheit des Denkens, und zwar im angstfreien Raum, als universales Prinzip anerkannt wird. Vor 250 Jahren wurde bei uns in Stuttgart ein Denker geboren, der diesen Begriff zum Zentrum seiner Philosophie gemacht hat: Hegel. Es lohnt, uns an diesen zivilisatorischen Fortschritt zu erinnern. Dass nun selbst das Schach im dogmatisch islamischen Raum der Verdammnis verfiel, trifft in aufgeklärten Gesellschaften zu Recht auf vollkommenes Unverständnis. Im Übrigen versagt sich damit der Strenggläubige in Saudi-Arabien eine wunderbare Sphäre des Denktrainings. Nicht zufällig hat nur ein saudischer Schachspieler mehr als 2000 Elo; mit dieser Leistung wäre er in Deutschland gerade mal unter den 10 Tsd. besten Spielern. Hier wäre also noch viel Luft nach oben.

Eine Herausforderung für uns Europäer

„Die Chinesen sind ein intelligentes Volk.“ Mit dieser tabubrechenden Erkenntnis leitete der damalige amerikanische Präsident Richard Nixon Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts die Entspannung in den politischen Beziehungen zwischen den USA und China ein. Hatte er Recht? Und wo bleiben dann die chinesischen  Männer in der harten Konkurrenz des Weltschachs? Einen Weltmeister hatten sie nämlich bislang noch nie stellen können. Das könnte sich bald ändern. Nach dem Inder Anand sitzt seit sieben Jahren der Norweger Magnus Carlsen auf dem Thron, und der wackelt: Kürzlich setzte der Chinese Ding Liren in einem hochdotierten internationalen Turnier den Weltmeister matt (was selten vorkommt, weil man in der Regel bei einer aussichtslosen Lage die Partie aufgibt). Sehen Sie, wie Ding Liren als Weißer bei diesem „Glücksspiel“ dem weltmeisterlichen König, und zwar dank des Einsatzes seiner Dame, ordentlich Beine macht und ihn in sieben Zügen matt setzt? (Es nachzuspielen ist auch ein Genuss: Lh7+Kh8; Txe8! Tf8xe8; Sg6+! Kxh7; Sf8++Kxh6; Dh7+Kg5; Dh4+ Kf5; Df4 matt.) (Quelle: Pfleger in: Welt am Sonntag vom 11.10.2020)

Adliges Paar

Foto: T.Weden