Seine politische Bedeutung heute. Ein Beitrag zur Erinnerungskultur
Vorbemerkung
An tragischer Geschichte war das letzte Jahrhundert nicht zu überbieten. Bestimmte Tage erinnern uns schmerzlich daran – so der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Genau einen Monat später erinnern wir dann jenen Tag, der die entscheidende Weichenstellung in die Katastrophe brachte: den Reichstagsbrand. Am 27. Februar 1933, zwölf Jahre vor der Befreiung von Auschwitz, wurde die Weimarer Verfassung, die noch gewisse rechtsstaatliche Strukturen garantierte, ausgehebelt und der Weg für Hitler freigemacht.
Über die Bedeutung dieses Ereignisses ist man sich weitgehend einig, aber über die Frage, wer für diesen Brand verantwortlich gewesen war, gab es sehr unterschiedliche Auffassungen – ja, in den 50er und 60er Jahren geradezu emotionsgeladene Auseinandersetzungen. Deren Hintergründe sind auch für uns, drei Generationen später, lehrreich.
Nachdem sich die Debatte um den Reichstagsbrand in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts beruhigt hatte, kam es in den letzten Jahren zu einer „Wiederaufnahme“ des Verfahrens. Im Anhang habe ich eine kleine, weiterführende Literaturliste angefügt, die bspw. auch ökonomische Hintergründe einbezieht. Denn nicht vergessen werden darf, dass im Jahr vor Hitlers Machtübernahme in Deutschland eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen mit einer horrenden Arbeitslosigkeit geherrscht hat. Aber dennoch hätte es so nicht kommen müssen.
Der Beginn: 31. Januar 1933: Hitler wird Reichskanzler
Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte aufgrund einer Intrige Franz von Papens General Kurt von Schleicher als Kanzler entlassen und am 31. Januar Hitler berufen, wohlwissend, dass mit diesem Kanzler die Gefahr bestand, dass die Republik wie in Italien unter Mussolini in eine Diktatur umschlagen könnte.[1]
Mit nur drei Ministerämtern in einem Kabinett von 13 Ministern schien Hitler mit beschränkter Macht ausgestattet und beherrschbar zu sein. Das erwies sich als Irrtum. Der Coup d´État wurde von den drei Herren unverzüglich vorbereitet: Wilhelm Frick, im Kabinett für die NSDAP Reichsminister des Innern, machte sich gleich an einen Entwurf für ein „Ermächtigungsgesetz“, das dem Kanzler Hitler alle nötigen Vollmachten für eine Machtergreifung erteilen sollte. Und Hermann Göring, der schon 1923 in München eine SA-Position bekleidete und nun der zweite Mann hinter Hitler und Chef der preußischen Polizei war, wertete die SS und SA auf, die 1933 mit immerhin einer halben Million Mitgliedern etwa fünfmal so stark war wie die durch die Versailler Verträge auf 100.000 Mann limitierte Reichsarmee, indem er sie kurz vor dem Reichstagsbrand zu Hilfspolizisten erklärte. Zeitgleich ließ Göring Listen von Oppositionellen zusammenstellen. Für einen Staatstreich fehlte noch lediglich der günstige Moment.
Diese Troika setzte auf einen möglichst reibungslosen Machtwechsel. Nachdem zuvor schon zwei Putschversuche gescheitert waren – der Kapp-Putsch von 1920 und Hitlers eigener vom November 1923 an der Feldherren-Halle in München –, war man vorsichtig geworden. Die legale Option stand aber vor einer Widrigkeit: Ein solches „Ermächtigungsgesetz“ benötigte im Parlament eine 2/3-Mehrheit. Und wie sollte das angesichts der Tatsache bewerkstelligt werden, wenn man als NSDAP nur 1/3 der Abgeordneten im Parlament repräsentierte? Die letzte Wahl im November ´32 erwies sich für die Nazis als Schlappe. Die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, die SPD und die KPD, hatten allein schon mehr Stimmen, nämlich 37 %, auf sich vereinigen können. Und wenn man noch das katholische Zentrum unter Heinrich Brüning (Reichskanzler von 1930 – Mai 1932) mit 15 % hinzunimmt, dann schien eine 2/3-Mehrheit unerreichbar, zumindest rein rechnerisch.
Den Staatsstreich dennoch geschafft zu haben, ist eines der traurigsten Kapitel der deutschen Geschichte. Die unsägliche Zerstrittenheit der Opposition, selbst in den wesentlichsten Grundfragen, wird einer der Sargnägel der Weimarer Republik sein.
Um die bestehenden Mehrheitsverhältnisse zu kippen, musste mit Billigung des Reichspräsidenten von Hindenburg eine Neuwahl angesetzt werden. Sie sollte am Sonntag, dem 5. März 1933, stattfinden. Joseph Goebbels sah für seine NSDAP aber nur eine Chance, wenn „der bolschewistische Revolutionsversuch … zuerst einmal aufflammen (würde, Erg. d. V.). Im geeigneten Moment werden wir dann zuschlagen.“[2]
Nur waren die Kommunisten, deren Kampfverbände im Unterschied zur paramilitärischen SA verboten und bei weitem nicht so stark waren, trotz der drastischen Provokationen nicht so töricht, um in diese Falle zu gehen. Unter der Ägide Görings wurden während des Wahlkampfs zunehmend auch die Sozialdemokraten ins Visier genommen. Eine freie Betätigung der Parteien wurde z. T. verboten, z. T. erheblich erschwert, da die SA, die zu einem Gutteil aus demobilisierten Soldaten bestand, die Straßen beherrschte und mit Terror überzog. Selbst der konservative Zentrumspolitiker und ehemalige Kanzler Brüning sah sich angesichts der Nachstellungen gezwungen, Polizeischutz zu beantragen. Goebbels kommentiert die Ereignisse: „15. Februar … nun knallen die Verbote, dass es nur so seine Art hat … Es scheint sich im Übrigen in Deutschland noch nicht herumgesprochen zu haben, dass eine Revolution im Gang ist. Man … glaubte, uns auf der Nase herumtanzen zu können. Man wird sich auf das grausamste getäuscht sehen …“[3]
Bis zu diesem Zeitpunkt waren viele noch gutgläubig gewesen – wie Golo Mann, der als 24jähriger junger Student die Ereignisse erlebte: „Wir waren die Blinden noch immer während der ersten Tage der neuen Regierung, eine bis zwei Wochen lang, um dann, während Monaten, von einer schlimmen Überraschung in die andere gestürzt zu sein.“[4] Goebbels hatte also recht, die Öffentlichkeit hatte sich täuschen lassen, manche wollten sich täuschen lassen.
Hitler rückversichert sich
Vier Tage nach der Ernennung zum Reichskanzler kam es bereits am 3. Februar in der Privatwohnung des Chefs der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord, zu einem Treffen zwischen Hitler und den hohen Militärs der durch die Versailler Verträge amputierten Reichswehr. Hitler schien mit seiner 2 ½-stündigen Rede leichtes Spiel gehabt zu haben. Sein Programm: Kampf dem Kommunismus, heimliche Wiederaufrüstung mit dem Zweck einer Lebensraumbeschaffung im Osten und dessen „rücksichtsloser Germanisierung“. Dabei müsse man ebenso rücksichtslos „einige Millionen Menschen ausweisen.“[5]
Den Anwesenden wurde überhaupt nichts vorgemacht. Hitler als frisch ernannter Reichskanzler informierte die Generalität ohne Umschweife, dass er das Deutsche Reich gezielt auf den nächsten Krieg vorbereiten würde, im Grunde nur das wiederholend, was in seiner Schrift „Mein Kampf“ von 1923 nachlesbar war. Das schien die Generäle nicht zu beunruhigen. Deren einzige Sorge war die Befürchtung, dass die SA von Hitler zu einer unbequemen Konkurrenz ausgebaut werden könnte. Die konnte Hitler – und hier war er ehrlich und blieb worttreu – zerstreuen, denn er brauchte die Generalität als zukünftigen Bündnispartner für sein Großmachtstreben.
Der Führungsriege der NSDAP waren außerdem die Vorbehalte in Kreisen der Industrie und der Finanzen bekannt. So hatte Krupp noch im Januar von Hindenburg vor einem Kanzler Hitler gewarnt. Göring lud daher am 20. Februar die wichtigsten Wirtschaftsvertreter in seinen Amtssitz, das Reichstagspräsidentenpalais, ein. Es kamen alle, Krupp, Bosch, Vertreter der IG-Farben, der Vereinigten Stahlwerke usw. sowie Vertreter des Finanzwesens mit dem begeisterten Hitler-Anhänger Hjalmar Schacht.
Hitler machte in seiner Geheimrede den Anwesenden lukrative Angebote: Wirtschaftsführer seien wichtig, sie seien durch Ausschaltung der Linken und der Gewerkschaften zu stützen, zudem versprach er mit der angestrebten Wiederaufrüstung gute Geschäfte usw. Zuletzt schloss er mit der Bemerkung: „Jetzt stehen wir vor der letzten Wahl. Wie auch immer ihr Resultat sein wird, es gibt kein Zurück mehr. Bringt die Wahl keine Entscheidung, so muß sie durch andere Mittel erreicht werden.“[6] Solch eine Bemerkung macht man nicht, wenn man keine breite Zustimmung erwartet. Tatsächlich schien das Eis gebrochen, auch bei Krupp. Bankier Schacht hatte am Ende der Geheimrede keine Mühe, Spenden in Millionenhöhe einzusammeln, die die abgebrannte NSDAP vor der Pleite rettete. Goebbels jubelte: „Wenn keine außergewöhnliche Panne mehr unterläuft, dann haben wir bereits auf der ganzen Linie gewonnen.“[7]
Welche anderen Mittel waren von Hitler gemeint? Die unbedarften Adressaten der Geheimrede schien es nicht weiter zu kümmern, aber die Führungsriege dürfte mit Sicherheit einige Optionen durchgespielt haben. Dass sich etwas zusammenzubrauen drohte, ahnten nicht wenige. Da lag was in der Luft, wie bspw. Friedrich Wilhelm Abegg, der ehemalige Staatssekretär im preußischen Innenministerium unter Brüning, hellsichtig erkannte. Es werde bald zu einem „Blutbad, einer Bartholomäus-Nacht (kommen, Erg. d. V.), selbst Hitler könne sie nicht mehr aufhalten, denn er habe sonst seinen Anhängern nichts zu bieten.“[8]
Der Vorwand kommt punktgenau – der Reichstag brennt
Sechs Tage vor der Neuwahl, am 27. Februar, an einem Montag gegen 21.00 Uhr, wurde ein Brand in dem vorderen Teil des Reichstagsgebäudes gemeldet. Göring, der in seiner Funktion als Reichstagspräsident sein Domizil im Präsidentenpalais direkt neben dem Reichstag hatte, war einer der Ersten im brennenden Gebäude, in dem man, wie auf dem Tablett serviert, nur einen einzigen Täter auf frischer Tat erwischte: Marinus van der Lubbe aus Leiden. Alfred Rosenberg, Chefideologe der NS-Bewegung und Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“, bedeutete dem Korrespondenten des britischen Daily Express, Sefton Delmer, der auch hinzugeeilt war: „Ich hoffe nur, unsere Leute haben damit nichts zu tun. Das wäre genau die Dummheit, zu der ein paar von ihnen imstande wären.“[9]
Foto: Bundesarchiv, Koblenz
Der Gedanke war zweifellos naheliegend, aber der Mann, den man am Tatort ergriff, war ein holländischer Bauarbeiter, der einmal der holländischen KP angehört hatte. Und der behauptete wiederholt, das verheerende Feuer allein gelegt zu haben. Wie kam der nach Berlin und warum gerade das Parlamentsgebäude, das ja auch von den Kommunisten als Tribüne für ihre Propaganda genutzt wurde? Das passte nicht so ganz zusammen; die erste Reaktion des leitenden Kripo-Beamten Rudolf Diels, dass es sich bei dem Täter wohl um einen „Verrückten“ handeln müsse. Die NS-Führungsriege witterte jedoch sofort, dass es sich hier um eine einmalige Chance für den ersehnten Coup handelte. Es war zunächst Göring, dann geriet Hitler in Fahrt. Noch am Abend riefen beide zum Fanal gegen die Kommunisten auf, ob gut gespielt oder echt – das lässt sich letztendlich nicht mit Sicherheit feststellen –, sie zeigten sich jedenfalls überrascht. Sich gegenseitig aufstachelnd, bedeutete Hitler dem Journalisten Delmer noch am Tatort: „Sie sind jetzt Zeuge des Ausbruchs einer großen Epoche in Deutschlands Geschichte.“[10] Die, wie sich bald herausstellte, völlig haltlose Legende von dem Auftakt eines kommunistischen Aufstandes war geboren, und Göring setzte nach: „Es darf uns kein kommunistischer und kein sozialdemokratischer Landesverräter entrinnen!“[11]
Vom Kollektiv-Versagen der konservativen politischen Klasse
Es ging nun Schlag auf Schlag: Am nächsten Tag verabschiedete das Präsidialkabinett am Parlament vorbei mit Billigung von Hindenburgs die „Reichstagsnotverordnung“, die alle wesentlichen persönlichen und bürgerlichen Rechte, die die Weimarer Verfassung noch garantierte, außer Kraft setzte. Sie war faktisch schon vor dem Ermächtigungsgesetz die entscheidend wichtige „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches.“[12]
Göring nutzte die Verordnung umgehend als Freibrief für eine rücksichtslose Verfolgung vermeintlicher „Landesverräter“. Nach offiziellen Angaben wurden fast 4000 Mitglieder der KP verhaftet. Bis zum 5. März zählte man ferner 51 ermordete Hitler-Gegner. Aber Mittäter oder Hintermänner des Brandanschlages waren merkwürdigerweise nicht ausfindig zu machen.[13] Einige Konservative begehrten auf: Brüning protestierte mutig gegen diesen Eingriff in die Grundrechte und verlangte eine Untersuchung über die verdächtigen Hintergründe des Reichstagsbrandes und rief Reichspräsident von Hindenburg in einem feierlichen Appell „auf, die ‚Unterdrückten gegen die Unterdrücker‘ zu schützen. Ein vergeblicher Appell! Der greise Präsident schwieg.“[14]
Den Willkürmaßnahmen wurde kein Einhalt geboten. Die Wahl am Sonntag, dem 5. März, verlief trotz der Repressionen und Behinderungen der Oppositions-Parteien für Hitler enttäuschend. Er verpasste mit einem immerhin beachtlichen Stimmenplus von 12 % klar die Mehrheit. Eine knappe Mehrheit konnte er im Parlament nur zusammen mit dem deutschnationalen Flügel erreichen. Eine 2/3-Mehrheit wäre bei einer klarsichtigen Opposition immer noch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
Das scheinbar Unmögliche, der Coup, gelang dennoch. Der „Hausjurist“ der NSDAP, der bekannte Staatsrechtler Carl Schmitt, feierte ihn als den – und das war ihm wichtig – „legalen Sieg“ der „deutschen Revolution“ (Nach dem Krieg war Hitler für ihn allerdings nur noch der aus dem Nichts gekommene „obdachlose Lumpenproletarier“ , vgl. Blasius, 226).
Keine drei Wochen nach der Wahl, am 23. März, kam das von Frick vorbereitete Ermächtigungsgesetz sprachlich geschönt als „Gesetz zur Behebung der Not vom Volk und Reich“ zur Abstimmung. Was aus heutiger Sicht nur schwer begreiflich ist: Obwohl noch immer kein Beweis für eine kommunistische Verschwörung vorlag, erhielt Hitler die für dieses Gesetz erforderliche 2/3-Mehrheit, und zwar zunächst durch die illegale Ausschaltung der kommunistischen Reichstagsabgeordneten.
Dieser Schlag reichte aber immer noch nicht für die 2/3-Mehrheit aus, da die Sozialdemokraten sich standhaft weigerten, Hitler den gewünschten Freibrief für seinen Terror zu erteilen. Die Verantwortung lag nun bei den übrigen Parteien, sich zu entscheiden. Was viele nicht fassen konnten, es stimmten für die eigene politische Enthauptung: Die katholische Zentrumspartei mit Brüning und die Deutsche Staatspartei mit Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten nach dem Krieg. In einer aberwitzigen Verkennung der nationalsozialistischen Bewegung gaben sie mit ihrer unsäglichen Zustimmung den Weg in eine beispiellose Tyrannei frei. Brüning entzog sich kurze Zeit später der drohenden Ermordung durch Flucht, Heuss schlug sich mit seiner Frau in abenteuerlicher Weise durch die Hitler-Jahre.[15]
Was nun folgte, war eine Mischung aus schrittweiser Umsetzung von Hitlers Visionen, erstmals publiziert in „Mein Kampf“, und ideologie-konformer Aktionen, die z.T. spontan aus der nationalsozialistischen Bewegung heraus entstanden. Die Kampfverbände SA und SS, die als Bürgerkriegsbewegungen nun entfesselt waren, sorgten, wie Abegg es vorausgesehen hatte, für eine permanente Unruhe und neigten gelegentlich zu Eigenmächtigkeiten. So ermordete bspw. die Berliner SA unter Karl Ernst den damals berühmten Magier Hanussen fast symbolträchtig am Tag der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes. Nicht jede Blutspur, die die SA, die SS oder die Gestapo hinterließen, war von Hitler oder Göring autorisiert worden, Göring deckte aber in der Regel nachträglich die Verbrechen. Noch ließ man der Bürgerkriegsbewegung wohlwollend Leine, bereits im April 1933 kam es zum Boykott jüdischer Geschäfte, Kanzleien und Praxen, und einen Monat später folgten die Bücherverbrennungen, die von den studentischen NS-Verbänden relativ spontan organisiert wurden und die der überraschte Goebbels vorbehaltlos unterstützte. Neben den bekannten Werken von Thomas Mann, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Erich Kästner usw. wurde auch „Hitlers Weg“ von Theodor Heuss verbrannt.
All das stieß im Ausland auf Befremden, und viele nahmen diese bedrohlichen Ereignisse zum Anlass, das Land ihrer Heimat z. T. für immer zu verlassen. Die Bürgerkriegsbewegung war eine wichtige Voraussetzung für die Machtergreifung gewesen. Aber nachdem alle staatlichen Institutionen unter die Kontrolle des „Führers“, „unseres Führers“ (Carl Schmitt) , gestellt waren, wurden die Eigenmächtigkeiten der SA zunehmend auch ein Störfaktor. Eine Klärung der Machtverhältnisse sollte im Sommer des nächsten Jahres mit dem sogenannten „Röhm-Putsch“ erfolgen, bei dem u. a. der SA-Mann Ernst erschossen wurde. (Für Göring war die SA dann später in Nürnberg auch nur noch „eine Rotte perverser Banditen“, zu jeglicher Gewalttat fähig, die sich aus der nationalsozialistischen Ideologie ableiten ließ.[16])
Der Reichstagsbrandprozess – mehr als nur ein „verrückter“ Einzeltäter?
Die Troika Hitler, Göring und Goebbels versuchte alles, die Legende von dem kommunistischen Fanal aufrecht zu erhalten, nur gaben die energischsten Ermittlungen in den kommunistischen Milieus und selbst die manipulierten Zeugen nicht genug her, um die vier angeklagten Kommunisten – unter ihnen war der Fraktionsführer der KPD im Reichstag, Ernst Torgler – neben dem Holländer van der Lubbe zu verurteilen. Der Prozess fand öffentlich unter reger Beteiligung der internationalen Presse statt, das Reichsgericht in Leipzig war somit gehalten, sich im Wesentlichen an die Rechtsgepflogenheiten zu halten. Der geständige van der Lubbe wurde verurteilt, die vier übrigen Angeklagten mussten erwartungsgemäß im Dezember 1933 freigesprochen werden – eine Blamage für das Regime und vor allem für Göring.
Eine Restunklarheit blieb: Ins Urteil wurde aufgenommen, dass die Expertise der drei hinzugezogenen Brandsachverständigen nach Auswertung der Brandumstände einmütig davon ausgegangen war, dass der Holländer Mittäter gehabt haben müsse. Sofort ergab sich die Frage, wer es denn sonst hätte sein können, wenn es trotz intensivster Ermittlungen und trotz härtester Verhörmethoden der politischen Polizei offensichtlich kein Kommunist war. Von einer Vorbereitung zum kommunistischen Aufstand war ohnehin nicht mehr die Rede.
Genützt hat das Ganze jedenfalls nur den Nazis, wie auch immer konkret der Ablauf gewesen sein mag. Wenn, dann waren jedenfalls die Mittäter in diesem Milieu zu suchen. Propagandistisch wurde diese Mehrtäter-Hypothese vor allem von den in mehrere Sprachen übersetzten „Braunbüchern“ von Willi Münzenberg verbreitet, dem Pressezaren der Linken, der rechtzeitig nach Paris emigrieren konnte. Dieser Verdacht konnte dem Regime allerdings nichts mehr anhaben. Als das Urteil im Dezember fiel, hatte Hitler mit seinen Parteigenossen Göring, Frick und Goebbels Fakten geschaffen: Im Sommer ´33 wurde der Einparteienstaat gesetzlich verankert, der kurz vor der Urteilsverkündung im Reichstagsbrandprozess noch in einer Novemberwahl bestätigt werden konnte. Da gab es nur noch eine Liste. Im Parlament, das allerdings ohnehin kaum noch eine Rolle spielen sollte, saßen fortan mit wenigen Ausnahmen nur noch Parlamentarier der NSDAP. Ende 1933 war die „deutsche Revolution“ somit weitgehend vollendet. Wer sich jetzt noch Hitler in den Weg stellen wollte, riskierte sein Leben. „Führer befiehl, wir folgen Dir!“ Der restliche Ablauf bis in den bitteren Untergang wurde nun weitgehend von seinem Willen bestimmt.
Nach dem Krieg – Schockstarre im Trümmerland Deutschland
Nach dem Krieg befand sich Deutschland quasi in einer Schockstarre. Man stand psychologisch und real gleichermaßen vor einer Trümmerlandschaft. Die Alliierten bestimmten in den ersten Jahren das Geschehen, und es ging zunächst darum, schlicht irgendwie über die Runden zu kommen. Das unbeschreibliche Desaster eines zerstörten Landes ließ wenig Raum für unvoreingenommene Reflexionen, wie das alles gekommen sein könnte. Im Vordergrund standen die Alltagsbewältigung und der Aufbau einer neuen Perspektive. Nach elf Jahren Hitler-Regime, davon fünf Jahre unter einem immer mörderischer werdenden Krieg, waren die Köpfe wie betäubt. Dann kamen die Nachrichten über die unfassbaren Gräuel in den KZs und den Vernichtungslagern. Wer war alles Mittäter, Mitwisser oder nur Mitläufer, und wer hier integer geblieben? Das zu entscheiden, war eine schier unlösbare Aufgabe. Man darf nicht vergessen, dass die NSDAP auf ihrem Höhepunkt sechs Mio. Mitglieder zählte, hinzu kommen noch die diversen Unterverbände. Angesichts der vielfältigen Verstrickungen mit dem Regime war der zweite Versuch, in Deutschland wieder eine Republik aufzubauen, mit erheblichen Hypotheken beschwert.
Die Entnazifizierung verlief häufig recht glimpflich, und viele kamen in der Bürokratie der frisch gegründeten Bundesrepublik gut unter. Die Ergreifung des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann 1960 in Argentinien brach wie ein plötzliches Gewitter über die Republik und machte schlaglichtartig klar, dass eine verdrängte fürchterliche Vergangenheit darauf wartete, aufgearbeitet zu werden. Der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sah sich bei seinen Ermittlungen durch erhebliche Widerstände, die bis in die höchsten Stellen der bundesdeutschen Exekutive reichten, behindert. Hans Globke, der es unter Adenauer bis zum Chef des Bundeskanzleramtes im Rang eines Staatssekretärs geschafft hatte, tat sein Mögliches, Bauer Sand ins Getriebe zu streuen. Nur durch trickreiche Winkelzüge gelang es, die Ergreifung Eichmanns in Argentinien einzufädeln.
Im Falle des Reichstagsbrandes sah der Fall etwas anders aus. Das Urteil des Reichsgerichtes war noch im Gedächtnis. Wenn sich aus dem Urteil unter Bezug auf die Expertise der drei Brandsachverständigen ableiten ließ, dass es mehrere Täter gegeben haben müsste, der verwirrte van der Lubbe vielleicht nicht einmal der Haupttäter gewesen sei, dann war das rechtsrelevant, nämlich wenn sich nachweisen ließ, dass sich die ermittelnden Beamten damals unter dem Druck Görings sträflich auf eine mögliche kommunistische Mittäterschaft konzentriert hatten, möglicherweise wohlwissend, dass es u. U. weitere Täter aus dem nationalsozialistischen Milieu gegeben haben könnte. Erste staatsanwaltliche Ermittlungen warfen einen bedrohlichen Schatten auf eine Reihe von belasteten Existenzen, die sich in der jungen Republik wieder in ihren angestammten Laufbahnen hatten einrichten können, darunter Diels, dem ehemaligen Leiter der politischen Polizei und späteren Gestapo in Berlin. Der hatte bereits unter Hitler eine SA-Kamarilla im Verdacht gehabt – ein Verdacht, den er unmittelbar nach Kriegsende noch einmal bestätigte. Konkret empfahl er, den im Umgang mit Brandbeschleunigern erfahrenen SA-Mann „Heini“ Gewehr, einen Jugendfreund von Karl Ernst, zu vernehmen.
Der Reichstagbrand im Fadenkreuz des Kalten Krieges
„Nach dem Urteil des Reichsgerichtes werden die Nazis dereinst einmal ganz zufrieden sein, wenn es bei der Alleintäterschaft van der Lubbes bleiben sollte“, unkte bereits während des Prozesses ein ausländischer Gerichtsreporter – 20 Jahre später sollte sich diese Prognose erfüllen.
Nur waren drei Gerichtsgutachten der Brandsachverständigen damals einmütig zu dem Ergebnis gekommen, dass der stark sehbehinderte holländische Bauarbeiter mit nur vier lächerlichen Kohleanzündern allein unmöglich einen solch verheerenden Brand im Reichstagsgebäude hätte verursachen können. Weitere Brandbeschleuniger hatte der Mann aber nicht bei sich gehabt. Ohne die sei eine so rasche Ausbreitung des Brandes jedoch nicht denkbar gewesen. Dies zu beurteilen, war eigentlich eine reine Sachfrage, die viel Sachkenntnis und Erfahrung erfordert. Ende der 50er Jahre geriet sie jedoch in den Strudel eines eskalierenden Kalten Krieges. Die junge „demokratische Republik“ unter Walter Ulbricht, die DDR, stand von Anfang an auf ziemlich wackligen Beinen. (In den Märzwahlen ´33 kandidierte Ulbricht bereits hinter Ernst Thälmann auf Platz zwei der KPD-Liste. Das Parlament betrat er wegen der Verfolgung aber nicht mehr, aber anders als Thälmann, der inhaftiert und später ermordet wurde, konnte sich Ulbricht gerade in Sicherheit bringen und nach Paris und später nach Moskau absetzen).
Alles, was der Legitimation eigener Herrschaft nützen konnte, wurde daher dankbar aufgegriffen. Die Sache mit dem Reichstagsbrand kam da gerade recht. Für die junge Bundesrepublik sah das Bild gar nicht gut aus – klischeehaft präsentierte sich hier eine junge DDR mit den unschuldig verfolgten Kommunisten an der Macht und dort eine junge Bundesrepublik, in der sich die Altnazis wieder ganz komfortabel haben einrichten können, u. a. solche, die sich am verhängnisvollen Reichstagsbrand schuldig gemacht hatten.
Das waren keineswegs nur hintergründig wirkende Treiber für ein Umdenken: Diejenigen, die es gern bei einem Einzeltäter belassen und die Sache damit auf sich beruhen lassen wollten, brachten sich mehr und mehr mit dem Ziel in Stellung, den drohenden Strafverfolgungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber auch politisch war die These nicht angenehm, dass es sich bei der Führungsriege mit Hitler an der Spitze um eine Gruppe von berechnenden Psychopathen gehandelt habe, deren jedermann einsichtiges verbrecherisches Streben man hätte erkennen und verhindern können, ja müssen. Wenn es sich dagegen, so das alternative Szenario, um eine Anreihung von mehr oder weniger unglücklichen Zufällen gehandelt hätte, die Hitler hochgespült haben, sähe ein selbstkritischer Rückblick nicht so demütigend und ehrverletzend aus. Die Vorteile des zweiten Narrativs sind unschwer zu erkennen.
Der Kampf um die Deutungshoheit wurde ab Mitte der 50er Jahre zunehmend emotional geführt. Ende der 50er Jahre kam mit Fritz Tobias die beschönigende These auf, die katastrophische Entwicklung sei wesentlich unvorhersehbar gewesen. Dieser hochrangige Beamte des niedersächsischen Verfassungsschutzes verstieg sich – gestützt auf akribische Recherchen, aber auch durch eine selektive Auswertung von Dokumenten – sogar zu der exkulpierenden Behauptung, dass Hitler erst durch Ereignisse wie dem Brandanschlag zu dem monströsen Diktator geworden sei, wie ihn die Welt erlebte. In einem späteren Interview räumte Tobias ein, dass es bei dem Reichstagsbrand nicht um den Nationalsozialismus, sondern „im eigentlichen Sinn um die Kommunisten“ gehe.[17] Der Kalte Krieg beeinflusste aber nicht nur das Koordinatensystem seiner Wahrnehmung.
Wissenschaftlicher Diskurs im Gravitationsfeld des Ost-West-Konflikts
Es gehört vielmehr zu den Eigentümlichkeiten dieser Zeit, dass ein Außenseiter sich mit seiner Hauptthese, es habe nur einen einzigen Täter gegeben, gegen eine bis dahin etablierte Wissenschaftsmeinung, die von einer Mittäterschaft der Nazis überzeugt war, durchsetzen konnte. Es begann Ende der 60er Jahre mit einer Artikel-Serie von Tobias im damals einflußreichen „Spiegel“. Dass die Fachwissenschaft diesen „Amateurhistoriker“ nicht ernst nahm, sollte sich als Fehler erweisen. Golo Mann entgegnete nur schwach, dass es ihm „aus volkspädagogischen Gründen“ nicht recht sei, wenn nur dieser eine ehemalige Kommunist aus Holland der Täter gewesen sei, der den Reichstag angezündet habe. Es gab auch andere Stimmen, wie die von dem Politikwissenschaftler Iring Fetscher (vgl. Literaturliste). Es blieb dem jungen, gerade promovierten Historiker Hans Mommsen vorbehalten, Tobias´ Quellen und Begründungen gründlicher zu prüfen. Er nahm zu Tobias Kontakt auf und durfte dessen umfangreiches Archiv nutzen.
Mommsen, der aus einer der berühmtesten deutschen Historiker-Dynastie stammte, kam zu dem überraschenden Schluss, dass Tobias nicht nur faktenreich argumentiert habe, sondern dass ihm im Wesentlichen Recht zu geben sei. Damit lag nun auch Mommsen quer zum Mainstream seiner etablierten Kollegen. Er konnte nur bestehen, wenn er lieferte, und das tat er mit einer für diese Zeit ausgesprochen differenzierten Expertise, veröffentlicht in den renommierten Vierteljahresheften für Zeitgeschichte.[18]
Alle Indizien, die für eine Mehrtäter-Hypothese in Richtung nationalsozialistischem Milieu sprachen, wurden hier systematisch in Frage gestellt. Viele Zeugenaussagen seien „fragwürdig“, Belege „zweifelhaft“, Expertenmeinungen „widersprüchlich“, Shirer bspw. wurde als „völlig unkritisch“ verworfen usw. Die gesamte Indizienlage wurde auseinandergenommen, wie es ein Strafverteidiger für seinen angeklagten Mandanten nicht hätte besser machen können.
Eine gewaltige Hürde blieb zu überwinden: Die Gutachten der drei Brandsachverständigen. Aber auch hier fand Mommsen Widersprüche und Ungereimtheiten. Bei der wichtigen Frage eines möglichen Einsatzes von Brandbeschleunigern stieß er bspw. auf erheblich divergierende Angaben. Meinte der eine, dass eine Menge um die 30 bis 40 kg hätte zum Einsatz kommen müssen (Prof. Emil Josse), meinte der andere, lediglich fünf Liter Benzol hätten als Auslöser für den verheerenden Brand gereicht (Dr. Wilhelm Schatz). Außerdem nahmen die Gutachter an, dass die Vorhänge schwer entflammbar gewesen waren, was wiederum van der Lubbe vor Gericht bestritt – ein Widerspruch, der gerichtlich nicht geklärt wurde. Aber vor allem war unklar: Wie hätte sich der Brand ohne Brandbeschleuniger so rasend schnell ausbreiten können?
Als Historiker warf Mommsen, sich eine gewisse Fachkompetenz zubilligend, ein, dass „der Sachverhalt noch unbekannt (gewesen sei, Erg. d. V.), dass der Plenarsaal durch seine ungewöhnliche Höhe und Luftzufuhr wie ein Kamin wirkte und daher die unerhörte Brandentfaltung ermöglichte.“[19] Auch das plötzliche Flammenmeer sei ebenfalls ohne die Mehrtäter-Hypothese erklärbar, denn entgegen der einhelligen Meinung der Brandschutzexperten sei sie als Folge einer „Verpuffung“ zu verstehen.[20] Mommsens abschließendes Urteil über die Sachverständigen fiel ähnlich harsch aus wie das von Tobias vor ihm, der von einem „Versagen“ der Sachverständigen sprach: Die „apodiktische Sicherheit“, mit der die Gutachter argumentierten, so Mommsen, stehe „in einem eklatanten Missverhältnis zur Dürftigkeit ihrer Befunde“[21] – vermutlich, so die Annahme, in Folge des enormen Drucks Görings, der unbedingt ein kommunistisches Komplott bewiesen haben wollte. Dafür habe er eine solche Expertise gebraucht. Da Mommsen auch einige Unsicherheiten der Experten nachweisen konnte, war diese Annahme durchaus nicht aus der Luft gegriffen.
Aber was folgt aus all dem? Auch wenn die Alleintäter-Annahme aus dem Feld der Unwahrscheinlichkeit herausgeholt wurde, sein Umkehrschluss war keineswegs zwingend: Damit „erübrigt sich die Chimäre eines ‚wilden‘ SA-Kommandos.“[22] Ein logischer Fehler, denn beide Hypothesen blieben noch denkbar: Ein stark sehbehinderter Täter, der glaubt, allein gehandelt zu haben und es theoretisch hätte schaffen können einerseits und andererseits die Annahme, dass van der Lubbe nur geglaubt hat, er wäre der Alleinverursacher des Brandes gewesen, während im Hintergrund für ihn unbemerkt die Brandbeschleuniger von einigen Mittätern bspw. ausgelegt wurden. (Es gab natürlich noch eine dritte, dass van der Lubbe von Mittätern wusste, sie aber nicht verraten wollte. Auch dafür gäbe es Motive.) Den Indizien und denkbaren Szenarien wären in Abhängigkeit von der Fachkenntnis und dem Hintergrundwissen ggf. unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten beizumessen. Nur der umgekehrte logische Schluss wäre zulässig: Wenn es mehrere Täter gegeben haben muss, dann schließt das die Hypothese des Alleintäters van der Lubbe kategorisch aus.
Entgegen der Mehrheitsmeinung seiner Fachkollegen war Mommsen außerdem überzeugt: „Ihre Überraschung (die von Hitler und Göring, d. V.) war echt.“[23] Aber Göring, der einer der Ersten an der Brandstelle war, war nicht nur von der Mittäterschaft anderer durch Hörensagen überzeugt, er zeigte Hitler in Gegenwart eines Journalisten auch, was er gesehen hatte: „Hier können Sie sich überzeugen, Herr Kanzler, wie sie das Feuer entfachten. Sie hingen in Petrol getränkte Tücher über das Mobiliar und zündeten es an.“[24] Hat sich Göring auch hier geirrt? Nach Mommsen, ja. Dass Hitler, vielleicht auch Göring von den Ereignissen überrascht wurden, wie zwei Monate später Goebbels von den spontanen Bücherverbrennungen der NS-Studenten, mag sein. Aber sie instrumentalisierten den Brand sofort für ihre Sache und sorgten mit allem in ihrer Macht stehenden Mitteln dafür, dass andere Spuren als die zu den Kommunisten nicht verfolgt wurden.
Zu Görings Beobachtung passte, dass einer der Sachverständigen, der Chemiker Dr. Schatz, u. a. in den Luftschächten des Plenarsaals Rußbeläge gefunden hatte, „die keine natürliche Brandursache zulasse“[25], sodass man um den Einsatz von Brandbeschleunigern tatsächlich nicht herumkam. Dieses Indiz wiederum passte weiter zu der Aussage van der Lubbes vor Gericht, dass er „beim Verlassen des Plenarsaals gesehen hatte, wie sich Feuer an Punkten im Raum entzündete, wo er selbst keins gelegt hatte.“[26] Da er bis zu seiner Ergreifung nur etwa zehn Minuten Zeit für die Brandlegung hatte, sprach das für mindestens einen weiteren Täter, der die Brandbeschleuniger eingebracht hatte.
Wenn dem ortsunkundigen Holländer im Dunkel des Februarabends der unbemerkte Einstieg in den Reichstag – zumal vorn über einen Balkon – gelungen war, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass es nicht auch einem Ortskundigen aus dem SA-Milieu gelungen sein könnte. Zumal es mit einem Tunnel zwischen dem Amtssitz Görings und dem Reichstag einen weiteren potentiellen Fluchtweg gegeben hat. Das Gericht zog im Übrigen auch eine „zerbrochene Glasscheibe auf der Ostseite des Gebäudes“ in Betracht, für die man keine Erklärung hatte.[27] Das Gericht vermutete, dass „sich dort einer der Beteiligten verborgen gehalten und sich in der Brandnacht bei Herannahen der Streife, die das Haus absuchte … ins Freie in Sicherheit gebracht (haben könnte, Erg. d. V.).“ Mommsen verwirft auch dieses Indiz und unterstellt dem Gericht bei der Bewertung „Leichtfertigkeit“.[28]
Aus dem Nebel diverser glaubhafter und weniger glaubhafter Indizien ragte noch eines heraus: Der Kleinkriminelle aus dem SA-Milieu, Adolf Rall, der im November ´33 vor dem Reichsgericht als Zeuge etwas über die Vorbereitungen des Brandanschlages auf den Reichstag aussagen wollte, wurde von der Gestapo, die über die zuständigen Stellen Kenntnis von Ralls Aussagebereitschaft erhielt, abgeholt und in einem Wald bestialisch ermordet. Zu einer Aussage kam es daher nicht mehr, und mit den Akten wurden auch die übrigen Spuren vernichtet. Für dieses Verbrechen wird es aller Wahrscheinlichkeit bis in die oberste Führungsriege der SA und der Gestapo hinein Mitwisser gegeben haben.
Alles in allem waren die Indizien, die für eine Mehrtäter-Hypothese sprachen, durchaus belastbar. Selbst Göring schloss während der Haft in Nürnberg nicht aus, dass der ihm bekannte führende Berliner SA-Mann, Karl-Gustav Ernst, mitbeteiligt gewesen sein könnte. Der sei zu allem fähig gewesen.[29] (Nur wurde auch dieser Mann wie viele andere, die dem Regime unbequem wurden, im Juni ´34 ermordet.)
Trotz der durchaus offenen Fragen, Unklarheiten und nachdenklich machenden Indizien kam es unter dem Eindruck von Mommsens Artikel in der Fachwissenschaft zu einem nachhaltigen Umdenken. Abgesehen von der Brillanz seiner Arbeit spielte sicherlich auch das Renommee dieses Wissenschaftlers eine Rolle. Auf Befremden stieß allerdings, dass Mommsen an seiner apodiktischen Beurteilung auch dann noch hartnäckig festhielt, als neuere Quellen andere Schlüsse nahelegten. Dem nachzugehen, würde den hier vorgegebenen Rahmen jedoch sprengen.
Wahrnehmungsverzerrende Gravitationsfelder im gesellschaftlich-politischen Raum
Ohne eine angemessene Einordnung in die damaligen Zeitumstände wird diese Wende nicht verstehbar. Im Licht der aggressiven Ost-West-Konfrontation zwischen den beiden sich unversöhnlich gegenüberstehenden hochgerüsteten Blöcken bekam das Indizien-Puzzle um den Reichstagsbrand offenbar jeweils unterschiedliche Ladungen, so dass analog der Relativitätstheorie je nach Zeit und Raum andere Plausibilitätsketten für begründbar gehalten wurden. Die einfache Version wäre die rein interessengeleitete, mehr oder weniger bewusste Verzerrung von Zusammenhängen, wie man sie bspw. Tobias vom Verfassungsschutz unterstellen könnte. Es geht aber im eigentlichen Sinne darum, wieweit sich der Einfluss dieser politisch-gesellschaftlichen Gravitationsfelder spezifisch auf bestimmte wissenschaftliche Sachthemen nachweisen lässt.
Die Konfrontation mit dem Stalinschen Sowjetsystem war in den 50er und 60er Jahre eine alles beherrschende Dominante, die mit der fast ein Jahr dauernden Berlin-Blockade 1948/49 eingeleitet wurde. Den Aufstand in Ostberlin vier Jahre später im Sommer 1953 hätte die frisch gegründete DDR ohne den Einsatz sowjetischer Soldaten schon nicht mehr überlebt. Hoffnungen, dass sich mit dem Tod von Stalin im März an den Verhältnissen etwas grundsätzlich zum Positiven verändern würde, wurden mit dem Einsatz der Sowjetpanzer im Keim erstickt. Ernüchtert erkannte man, dass man das Stalinsche System nicht gleichsam mit dem Ableben des Diktators abschütteln konnte. Es hatte sich ein politischen Kommando-System herauskristallisiert – eine Nomenklatura, deren Machtstrukturen sich verfestigt hatten. Der brutal unterdrückte Aufstand in Ungarn drei Jahre später zeigte, wie wenig reformbereit das Sowjetsystem war. Und wieder ein paar Jahre später wurde die System-Schwäche des Sowjet-Reiches mit dem Bau der Mauer, die den Exodus enttäuschter Bürger aufhalten sollte, vor aller Augen dokumentiert. Ein Jahr später stand die Welt mit der Kuba-Krise schließlich am Rand eines Atomkrieges.
Hier geht es nicht um eine politische Bewertung der Eskalation, sondern um den Einfluss, den sie auf die öffentliche Wahrnehmung und in Folge auf die Bildung wissenschaftlicher Urteile hatte. Vor dem Hintergrund dieses Gravitationsfeldes schloss Mommsen in seiner Expertise über den Reichstagsbrand, dass man nicht verschweigen dürfe, „dass der Nationalsozialismus im Unterschiede zum Bolschewismus keine zweckgerichtete, planvolle Revolutionsstrategie besaß, sondern viele seiner Erfolge ungeduldigen, unbedachten und meist augenblicksgebundenen ‚Sofortentscheidungen‘ bei stärkster Flexibilität seiner allgemeinen Ziele verdankte.“[30] Eine relativierende Behauptung, eingestreut neben dem eigentlichen Thema, die schon sein Doktorvater Hans Rothfels kritisch sah. Denn hier habe Mommsen möglicherweise „mit der Ansicht vom Getriebensein durch Wunschvorstellungen die letzte Zielgerichtetheit im Handeln Hitlers und seinem trotz aller Fehleinschätzungen doch planvoll einkalkulierten Erfolg unterschätzt, zu dem der Reichstagsbrand den …. Anlaß gab.“[31] Wer nur die Ereignisse bis zum sogenannten Röhm-Putsch im Sommer 1934 analysiert und dann bspw. die kriegsvorbereitenden Maßnahmen ab 1937, wird Rothfels´ kritischem Einwurf sicherlich zustimmen. Man hätte Mommsen auch nur auf Heuss´ „Hitlers Weg“ verweisen brauchen, in dem die allgemeinen Ziele Hitlers – sehr kritisch – analysiert wurden. Sie waren also bereits zu der Zeit bekannt, als Brüning noch Kanzler war.
In einer Fachfrage, nämlich, wie die Geschehnisse um den Reichstagsbrand in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen sind, spiele nach Mommsen der Gesichtspunkt eine Rolle, dass dabei „der heutigen geschärften Einsicht in die kommunistische Revolutionsstrategie“[32] Rechnung zu tragen sei. Wäre das ein Motiv, von dem Verdacht einer Mittäterschaft des Nazi-Milieus Abstand zu nehmen? Näher erläutert wird es nicht.
Die Wiederaufnahme eines Verfahrens: Zurück zur Mehrfachtäterschaft
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems konnte ideologiefreier gedacht werden, denn den Kalten Krieg mit dem gefürchteten Bolschewismus gibt es so nicht mehr. Stattdessen sind wir anderen mentalen Gravitationsfeldern ausgesetzt. Die mögen weniger wirkmächtig sein, aber das kann sich auch wieder ändern. Der Rückblick könnte daher auch für uns heute lehrreich sein.
Die für das wissenschaftliche Arbeiten notwendige geistige Unabhängigkeit gegen hoch emotional aufgeladene politisch-gesellschaftliche Gravitationsfelder zu bewahren, ist eine Herausforderung, vor die sich die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften mehr als die Naturwissenschaften gestellt sehen. Sie haben sich insbesondere bei der Konstruktion von Plausibilitätsketten mit der Frage auseinanderzusetzen, unter welchen historischen Bedingungen des gesellschaftlichen Seins sie Fakten in eine verständige Ordnung zu bringen suchen.
Trotz der neuen Quellenlage ab 1989 hat sich Mommsen, der 2015 verstarb, in seiner Überzeugung nicht mehr erschüttern lassen. Vor allem wurde eine Reihe von weiteren sachverständigen Stellungnahmen veröffentlicht, die alle einmütig die Ergebnisse der damaligen Gerichtsgutachter stützten. Dr. Schatz, der die Rußablagen festgestellt hatte, wurde sogar eine außergewöhnliche Kompetenz zugesprochen. Angesichts einer Gutachterlage von ca. sieben oder acht einmütigen Expertisen, die alle eine Alleintäterschaft van der Lubbes für absolut unwahrscheinlich halten, wird der Schluss fast zwingend, dass sich wohl eher Mommsen mit seiner Hypothese geirrt haben wird. Die Empfehlung des Naturwissenschaftlers und Philosophen Georg Christoph Lichtenbergs, einem Zeitgenossen von Goethe und Newton, man solle in seinem Leben mindestens alle 10 zehn Jahre einmal seine wichtigen Grundsätze und Meinungen – oder wie Mommsen sich ausdrückte, seine „Plausibilitätsgesichtspunkte“[33] – kritisch auf den Prüfstand stellen, hätte Mommsen besser folgen sollen.
Spätestens seit Albert Einstein wissen wir, die Wissenschaft lebt gerade von der vorurteilsfreien ständigen Prüfung eigener Grundannahmen. Nachdem neuere Quellen erschlossen werden konnten, war es für Benjamin Carter Hett, Geschichts-Professor in New York, an der Zeit, die Wahrscheinlichkeiten der verschieden denkbaren Szenarien neu zu kalibrieren.
Vor Hett beteiligte sich bereits das Autorenpaar Bahar und Kugel an der „Wiederaufnahme“ dieses Falles, und es ist nicht ganz zufällig, dass Bahar, Jahrgang 1960, und Hett, Jahrgang 1962, Mommsen, Jahrgang 1930, d. h. nach rund einer Generation, ablösten. Die jüngere Historiker-Generation hatte bereits mehr Abstand zu den drei Jahrzehnten Kalten Krieg. Zudem war die universitäre Ausbildung in den 80er Jahren völlig anders aufgebaut als in den 50er Jahren. Die empirische Prüfung von Hypothesen und Verfahren der Falsifikation war bspw. inzwischen in den meist Studiengängen integriert. Hett verfällt in seiner sehr ausführlichen Analyse des Reichstagbrandes somit auch nicht dem Fehler, Wahrscheinlichkeiten in apodiktische Urteile zu gießen. Jedenfalls haben wir wieder eine heiße Spur: Sie weist in Richtung einer wie auch immer gearteten Beteiligung des nationalsozialistischen Milieus. Mehr als das, nämlich eine heiße Spur, wird es allerdings für die Nachwelt wahrscheinlich nicht mehr geben. War das nun alles nur ein Streit um des Kaisers Bart?
„Was für einen Unterschied macht es eigentlich, wenn es doch die Nazis waren?“
Dieser Frage von Hett muss man sich heute stellen. Zwei Teilantworten dazu könnte man geben. Die eine betrifft die Frage, ob sich etwas an dem Kollektiv-Versagen der konservativen politischen Klasse ändert. Klare Antwort: Nein. Golo Manns Ansicht, die Mittäterschaft der Nazis bei dem Reichstagsbrand hätte „volkspädagogische“ Vorteile, ist nur zum Teil richtig.
Bereits Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hätte nicht geschehen müssen. Von Hindenburg tat es aufgrund einer Intrige und vermutlich auch aus definitiv niederen Motiven heraus. Aber nachdem die Ermittlungen um den Reichstagsbrand am 27. Februar zunächst nur ergeben hatten, dass es sich um einen verwirrten holländischen Ex-Kommunisten, einen Einzeltäter, handelte – um einen „Verrückten“, wie der leitende Beamte Diels feststellte – war es völlig unverhältnismäßig, dass die Kabinettsrunde bereits am nächsten Tag der hysterisierten Darstellung von drei „skrupellosen und brutalen Condottiere“ – wie Mommsen die Führungstroika Hitler, Göring und Goebbels einmal bezeichnete, also Söldner, wie sie in den italienischen Renaissance-Städten angeheuert wurden – , diesen drei Nationalsozialisten blindlings folgte und mit der Reichstagsnotverordnung alle wichtigen bürgerlichen Rechte aussetzte. Auch von Hindenburg, dem klar sein musste, was dies angesichts der bekannten Ausschreitungen der SA in den Vormonaten bedeuten würde, hätte noch korrigierend eingreifen können – was er aber nicht tat. Und er blieb auch angesichts des beginnenden Terrors im Februar stumm. Er blieb auch trotz der zunehmend breiter werdenden Blutspur, der selbst General von Schleicher, den er selbst einmal zum Reichskanzler ernannt hatte, zum Opfer fiel, bis zu seinem Ende stumm. Alles in allem: eine fatale Beihilfe zum Staatsstreich.
Aber nicht nur von Hindenburg versagte in seiner Funktion. Das Parlament hatte noch eine Chance, Zeichen zu setzen und wenigstens in Würde abzutreten. Die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, trotz der nach wie vor unklaren Ermittlungslage, wurde so zum Schlussstein für die Hitler-Diktatur, weil damit der Schein einer Legalität gewahrt wurde. Die 2/3-Mehrheit kam zustande, weil in dem Rumpfparlament einzig die Sozialdemokraten die Courage hatten, sich dem entgegenzustellen. Carl Schmitt feierte dieses Votum hymnisch als den „legalen“ Schritt zur „deutschen Revolution“ (35). Für unser Kollektiv-Bewusstsein sollte dieses parlamentarische Versagen eine bleibende Mahnung sein.
Die politisch-gesellschaftliche Bedeutung für uns heute
Wenn man die Zusammenhänge und Hintergründe noch einmal unter dem Aspekt einer möglichen Mittäterschaft untersucht, ergeben sich auch für uns heute noch relevante Erkenntnisse. Die Mittäter-Hypothese schaltet wieder den Blick auf eine diabolische Komplexität frei. Die Dynamik aggressiv aufgeladener extremistischer Bewegungen lässt sich anhand der Sturmabteilung (SA) exemplarisch beleuchten. Denn sie wurde unter Ernst Röhm, einem der wenigen Duzfreunde von Adolf Hitler, systematisch zu einer revolutionären Bürgerkriegsbewegung ausgebaut, wobei die schwere Wirtschaftskrise ein maßgeblicher Treiber war.[34] Wenn man am Beispiel des Reichstagbrandes die Vernetzungen mit den schwer fassbaren Verästelungen, den diffus changierenden Willensbildungsprozessen und den ideologisch aufgeladenen „Aufträgen“, die sich bewusst von den „bürgerlichen“ Gepflogenheiten abgrenzen, nachverfolgt, dann eröffnen sich diverse Szenarien, die schon deshalb hypothetisch bleiben, weil Hitlers Chargen alle einschlägigen Akten gezielt vernichtet haben, darunter auch die von Röhm nach seiner Ermordung in der „Bartholomäusnacht“ vom Juni 1934.
Es ist nun wahrlich nicht neu, dass Überfälle, Anschläge usw. verübt wurden, ohne dass man die Auftraggeber in den oberen und höchsten Rängen mit Ross und Reiter benennen könnte. Wie weit die Troika in konkrete Planungen zum Reichstagsbrand involviert gewesen war, wird man nicht erhellen können. Göring jedenfalls behauptete in einem Verhör in Nürnberg, er habe „vorher“ von dem Brandanschlag nichts gewusst, wobei der US-Offizier ergänzte: „Görings Verhalten wies darauf hin, dass er mehr wußte, als er gesagt hatte.“[35]
Vieles spricht dafür, dass Göring und in Folge auch Hitler relativ schnell über die Hintergründe einer wahrscheinlichen Beteiligung aus dem SA-Milieu informiert wurden. Ein klassisches Topdown- Szenario dürfte unwahrscheinlich sein. Eher einem Kraken ähnlich, wurde der Wille über das Zentralgehirn im Kopf signalisiert, wobei dessen Fangarme mit hirnähnlichen Nervenzellen bei der Beutesuche gewisse Handlungsspielräume haben – ein System, was lange gut funktionierte. Anders als beim Kraken erlaubte sich der Fangarm SA unter Röhm allerdings später Eigenmächtigkeiten, die dem Kopf gefährlich wurden – ein wesentlicher Grund für das Blutbad im Sommer 1934.
Beim Reichstagsbrand Ende Februar 1933 dürften Kopf und Fangarme noch konzertiert funktioniert haben. Göring, vielleicht schon vor Ort etwas ahnend, nutzte und instrumentalisierte als erfahrener Alpha-Mann die Situation umgehend und souverän. Der Zug, auf den er sprang, wurde so von einer SA-Kamarilla um Ernst, wahrscheinlich mit Billigung Goebbels, bereitgestellt. Denn nur in diesem Milieu stand ein organisiertes, extrem gewaltbereites Netzwerk, das im Zündeln über genügend Know-How verfügte, bereit. Eine komplexe Planung war nicht erforderlich, wohl aber gute Verbindungen in den Stadtteilen, vor allem in Neukölln, wo van der Lubbe zuvor ein paar Tage mit großen Sprüchen unterwegs war.
Der Anschlag auf den Reichstag passte perfekt zur demokratiefeindlichen Ideologie des Nationalsozialismus. Dass es dann van der Lubbe war, der, nachdem er Berlin bereits verlassen hatte, wieder zurückkehrte, um das Reichstagsgebäude anzuzünden, ist eine Merkwürdigkeit, die dafür spricht, dass einiges dennoch zufällig zustande gekommen war. Sie erleichterte jedenfalls Görings Ziel, die Kommunisten auszuschalten. In Nürnberg gab er offen zu: Sie hätten es sonst anders gemacht[36], was einmal mehr die diabolische Skrupellosigkeit der NS-Bewegung bewies. Denn man hätte bürgerkriegsähnliche Zustände, u. U. mit einem Generalstreik in Kauf genommen, in die möglicherweise auch die Reichswehr hineingezogen worden wäre. Denn die hätte sich entscheiden müssen. Hitler setzte daher aus seiner Sicht vollkommen nachvollziehbar auf ein Verfahren, dem man zumindest einen Anstrich von Legitimität verleihen konnte. Das sicherte ihm, wie sich dann zeigte, die weitgehende Loyalität der Beamtenschaft.
Seit Februar ´33 an der Macht, verbreitete sich in den Verbänden die Wahrnehmung, man könne nun die politischen Feinde offener attackieren, sofern die Anschläge ideologie-konform waren und der Gesamtbewegung nicht schadeten. Vieles wurde bereits im Februar vor allem von Göring gedeckt. Warum sollte das bei dem Reichstagsbrand anders gewesen sein? Der Mord an Hanussen am Tag der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes belegt, dass man noch viel weiter zu gehen bereit war als eine Brandlegung. Eigenmächtigkeiten dieser Art gehörten insofern zum System. Dareinpassen würde das Szenario, dass man, als man von dem in Neukölln großmäulig auftretenden van der Lubbe erfahren hat, mit diesem Holländer Kontakt aufgenommen und diesen stark sehbehinderten Mann, der verrückterweise unbedingt ein Fanal gegen das NS-Regime setzen wollte, ihn die eigenen Zwecke instrumentalisierte. Die Motive, das tatbereite Personal und die technischen Möglichkeiten für eine Taskforce – all das war, wie bereits erwähnt, zweifellos vorhanden und relativ ad hoc abrufbar.
Mit mehr Geschichtsbewusstsein hätte es heute vielleicht nicht zu einer Neubewertung des rechtsextremen Milieus kommen müssen, denn die Skrupellosigkeit in der Aktion, so ein Feindbild erst einmal fokussiert ist, und ihre destruktive Dynamik sind damals wie heute gleich. Auch die Feindbilder sind so anders nicht. Nur haben wir es zum Glück nicht mit dem gewaltigen Kraken wie in den 30er Jahren zu tun, auch nicht mit einer schweren Wirtschaftskrise als Treiber, dafür aber mit autonom agierenden gefährlichen kleinen Netzen. Mit diesem Phänomen hat man zu lange nicht gerechnet, wie der traurige Skandal um die NSU-Gruppe, der bis heute trotz verbesserter Kontrollinstanzen keine befriedigende Aufklärung erfahren hat, bewies. Insofern muß einiges neu gedacht werden. Vor allem entwickeln sich die Milieus, gestützt von den digitalen Medien, dynamischer. Was man damals meist zu Fuß erledigen musste, weil man anders keinen Kontakt herstellen konnte, wird heute in wenigen Minuten erledigt. Das Handeln beschränkt sich nicht mehr auf bestimmte Quartiere (Wedding, Neukölln), obwohl die Mobilität schon damals gelegentlich erstaunlich hoch war, wie die Umtriebigkeit des Holländers aus Leiden belegt. Dennoch, Aktionen können heute unvergleichlich schneller in Gang gesetzt werden: Was früher tagelanger Vorbereitungen bedurfte, gelingt heute fast wie im Zeitraffer.
Die Gefährlichkeit an extremistischen Flügeln ist leider nicht gesunken, aber auch die Dynamik extremistischer Bewegung ist nach wie vor bemerkenswert. Die jüngsten Ereignisse in den USA zeigen, wie schnell sich in einer induzierten Massenbewegung destruktive Energie entladen kann. Nach einer permanenten Feindbildfokussierung, man würde einen legitimen Machtanspruch Trumps torpedieren, reichte eine vage Aufforderung, um einen Sturm auf das Parlamentsgebäude auszulösen. Zum Glück handelte es sich aber nicht um eine gut organisierte extremistische Massenbewegung, wie das z. B. bei dem Kurfürstendamm-Krawall 1931 von der SA der Fall gewesen war, obwohl sich eine ähnliche Klientel wie die Proud Boys an dem Sturm auf das Kapitol beteiligte. Diese Bewegung entstand spontan und hatte auch keine klare Zielrichtung. Nach dem überraschend erfolgreichen Sturm wusste man im Grunde nicht weiter. Im Gebäude selbst kam es zwar zu einem kaum fassbaren unkontrollierten Vandalismus. Obwohl die Beschäftigten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten, gab es leider dennoch Opfer zu beklagen. Aus europäischer Sicht ist bemerkenswert, dass es in einer solch aufgeheizten Situation nicht auch zu einem Schusswechsel gekommen war, wo die Waffengesetze in den Bundestaaten bis heute doch den Besitz scharfer Waffen zulassen.
Die Umstände um den Wechsel der Präsidentschaft von Trump zu Biden könnte trotz des Debakels auch ein Lehrstück sein. Der Weltöffentlichkeit wurde einerseits gezeigt, wie schnell sich in einer Massenbewegung destruktive Energie entlädt, aber ihr wurde auch gezeigt, wie gefestigt die Institutionen in den USA darauf reagiert haben. Die Presse – sie blieb unabhängig und frei, die Richter – sie ließen sich nicht beirren, die Armee – über die Parteien hinweg blieb sie einmütig verfassungstreu, Vertreter der Wirtschaft einschließlich der neuen Kommunikations-Konzerne – wir sahen ein klares Bekenntnis zu den demokratischen Spielregeln. Selbst viele Republikaner standen unbeirrt hinter dem Rechtsstaat. Der ansatzweise Versuch, eine beachtliche Massenbasis emotional für die eigenen Zwecke aufzuladen, wurde am Ende durch das rechtsstaatliche Gesamtgefüge souverän ausgebremst.
Beides hat funktioniert: Die Institutionen und der Charakter des entscheidenden Personals in den drei Gewalten und der Wirtschaft. Man sollte auch die verinnerlichten moralischen Werte und die Einstellung, dass der Verfassung des Heimatlandes ein höherer Stellenwert beizumessen ist als jeglicher fremdbestimmten Loyalitäts-Forderung, nicht kleinreden. Beides war wichtig. In der jungen Weimarer Republik haben alle diese Ebenen leider eklatant versagt.
Die jüngsten Ereignisse in den USA haben uns allerdings auch vor Augen geführt, dass keine Zivilgesellschaft, auch die mit einer langen Verfassungstradition, davor gefeit ist, in Krisenzeiten gelegentlich in ihren Grundfesten geprüft zu werden. Wenn wir über den Reichstagsbrand reden, reden wir also auch über das Heute.
Literatur:
Altrichter, Helmut: Stalin: Der Herr des Terrors, München 2018.
Bahar, Alexander und Kugel, Wilfried: Der Reichstagsbrand – Geschichte einer Provokation, Berlin 2000.
Blasius, Dirk: Carl Schmitt: Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich. 2001.
Fetscher, Iring: Der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, Zur Lage der Aufklärung über Täter, Motive, Gründe der Verschleierung, http://www.zeitreisen.de/kulturbox-archiv/brand/fetscher3.htm.
Gilbert, Gustave M.: Nürnberger Tagebuch, Frankfurt a. M. 1977.
Heuss, Theodor: Hitlers Weg. Geschrieben Ende 1931, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1932.
Hett, Benjamin Carter: Der Reichstagsbrand – Wiederaufnahme eines Verfahrens, ebook, Hamburg 2016.
Kessler, Harry, Graf von: Das Tagebuch (1880 – 1937), Gesamtausgabe, Bd. 1 bis 9, Stuttgart 2018. Seitenangabe nach e-book.
Mann, Golo: Erinnerungen und Gedanken – Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a.M. 1991
Mommsen, Hans: Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen; in: Vierteljahrhefte für Zeitgeschichte, Heft 4/1964, als PDF: https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1964_4_2_mommsen.pdf.
Petzina, Dieter: Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit. Stuttgart 1977.
Schmitt, Carl: Staat, Bewegung, Volk, Hamburg, 1933. Als pdf bei: archive.org
Spree, Reinhard: About the Relative Efficiency of the Nazi Work Creation Programs. (Zur relativen Bedeutung der NS-Arbeitsbeschaffungspolitik. Munic Discussion Paper No. 2004-15; Volkswirtschaftliche Fakultät der LMU München; online: https://doi.org/10.5282/ubm/epub.382
Weitere Wikipedia-Quellen:
zu Brüning, Heinrich: https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Brüning
zu Ernst, Karl: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Ernst_(SA-Mitglied)
zu Heuss, Theodor: Theodor Heuss, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Heuss#Auseinandersetzung_mit_dem_Nationalsozialismus
zu Hindenburg, Paul von: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_von_Hindenburg
zu Papen, Franz von: https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Papen
zum Reichstagsbrand: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsbrand
zum Reichstagsbrandprozess: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsbrand
zu Röhm, Ernst: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Röhm
zu Schleicher, Kurt von: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_von_Schleicher
zu van der Lubbe, Marinus: https://de.wikipedia.org/wiki/Marinus_van_der_Lubbe
[1] Mehrere Motive werden neben der Intrige bei dem Meinungswechsel eine Rolle gespielt haben. Von Hindenburgs Sohn Oskar war in mehrere dubiose Geschäfte verwickelt, deren Verfahren von Hitler nach seiner Ernennung niedergeschlagen wurden. Außenpolitisch zeigte sich die Lage in Stalins Sowjetunion nicht nur aus Sicht der Grundbesitzer, der ostelbischen Junker, wie von Hindenburg einer war, besorgniserregend. Die Repressionsexzesse in der Sowjetunion, dem Hort des Bolschewismus, eskalierten 1932. Stalin führte mit der Zwangskollektivierung einen regelrechten Bürgerkrieg gegen die bäuerlichen Strukturen; eine Reihe von Revolten wurde blutig niedergeschlagen. Dem folgten schreckliche Hungersnöte, die Stalin billigend in Kauf nahm (vgl. Altrichter, 285 – 300). Hitler schien mit seiner paramilitärischen Bürgerkriegsarmee, der SA, einem immer größeren Teil im rechtskonservativen Lager, die einzige effektive politische Gegenkraft zu sein, die in der Lage war, Ähnliches in Deutschland zu verhindern. Ihm spielte in die Hände, dass die von Lenin 1921 gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) ab etwa Mitte der 20er Jahre die Sozialdemokraten zum Hauptfeind erklärten und als Sozialfaschisten denunzierten. Dem folgte die KPD mit Thälmann und Ulbricht kritiklos.
[2] Shirer, 187.
[3] Mann, 490.
[4] Mann, 484.
[5] Vgl. Liebmann-Aufzeichnung, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Liebmann-Aufzeichnung.
[6] Vgl. Shirer, 187, Hervorh. d. V.
[7] Vgl. Geheimtreffen vom 20. Februar 1933, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Geheimtreffen_vom_20._Februar_1933.
[8] Tagebuch von Harry Graf Kessler vom 22. Februar ´33, 1545; vgl. auch Bahar u. Kugel, 35 f.
[9] Vgl. Mommsen, ebd., 354, FN 7.
[10] Mommsen, ebd., 384.
[11] ebd.
[12] Hett, 47
[13] Vgl. Mommsen, 395.
[14] Shirer, 192.
[15] Vgl. Theodor Heuss, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Heuss#Auseinandersetzung_mit_dem_Nationalsozialismus.
[16] Vgl. Gilbert, 83.
[17] Vgl. Hett, 795.
[18] Vgl. Mommsen, ebd.
[19] Mommsen, 361.
[20] Vgl. dazu u. a. die Erörterungen zu Dr. Schatz und den anderen Gutachtern Bahar u. Kugel 278 ff. u. Mommsen ebd., 374 f.
[21] Mommsen, 373.
[22] Ebd., 382.
[23] Ebd.
[24] Vgl. Bahar 276, FN 413.
[25] Vgl. Bahar, ebd. und Mommsen, 372 u. 380.
[26] Hett, 886.
[27] Vgl. Hett, 889.
[28] Vgl. Mommsen 360, FN 27a.
[29] Vgl. Hett, 325.
[30] Mommsen, 356.
[31] Vgl. Vorwort zu Mommsen, ebd.; Hervorhebung d. V.
[32] Ebd., 393.
[33] Vgl. Bahar, 327.
[34] Vgl. Petzina, 190.
[35] Vgl. Hett, 324.
[36] Vgl. Hett, ebd.
Als ehemaliger Berliner brand kommissionsleiter im Nachkriegs Berlin habe ich mich insbesondere Mit dem Reichstagsbrand befasst. Ein kleiner Teil meiner Erkenntnisse ist eingegangen in das Buch mit dem Titel „Wal.er zirpins – ohne Reue“. Kürbis hatte 1933 die Vernehmungen des angeblichen Brandstifters von der Lubbe vorgenommen. Das von mir genannte Buch ist nicht im Handel erhältlich sondern lediglich über das Landeskriminalamt Niedersachsen zu beziehen meinerseits hätte ich gerne einen persönlichen Kontakt zu dem Autoren des Artikels