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Man sollte die Rede Putins, die er im September 2001 vor dem deutschen Bundestag gehalten hat, gelesen haben: Von einem Haus Europa war da die Rede, auf das man gemeinsam hinarbeiten sollte. Angesichts der neuen Bedrohungen – der Terroranschlag auf die beiden Türme des World Trade Centers in New York vierzehn Tage zuvor, dem 9-11, hatte Amerika und Europa in Schockstarre versetzt – bräuchte es eine neue Sicherheitsarchitektur. Und dann kamen entscheidende Sätze: Russland ist für die europäische Integration, denn „wir tun das als Volk …, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.“ Vor allem die folgenden Worte Putins wurden von den Abgeordneten mit großer Sympathie aufgenommen: „Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes.“ An diesem Tag herrschte optimistische Aufbruchsstimmung, der Kalte Krieg schien wirklich Geschichte.
Welch einmalige Chancen schienen zum Greifen nah? Fast genau 20 Jahre später steht Moskau vor einem Fiasko: Die UN-Vollversammlung verurteilt am 02. März in einer historischen Sitzung den kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine mit überwältigender Mehrheit. Nicht nur ganz Europa einschließlich den Anrainern wie Finnland, die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgaren und Georgien, auch Serbien, selbst Länder, die gute Beziehungen zu Russland pflegen wie die Vereinigten Emirate, sogar Saudi-Arabien waren mit im Boot. Der enge Verbündete Kasachstan wie auch China und Indien, aber auch die Mullahs im Iran enthielten sich, man muss sagen: immerhin. Europa, Vorderasien, Afrika und Asien rückten in einer zentralen Frage zusammen: Ein Angriffskrieg kann nicht hingenommen werden. Nur unter den blutigsten und diplomatisch isoliertesten Diktatoren fand Russland Unterstützer: Lukaschenko (Belarus), Kim (Nordkorea) und Assad (Syrien). Das Bekenntnis der Weltgemeinschaft ist eindeutig, historisch eine Zäsur markierend, ein Quantensprung unserer Zivilisation: Bestehende Grenzen sind zu respektieren. Putins Überfall löste eine Lawine von Sanktionen aus, denen sich sogar die Schweiz und Singapur anschlossen. Sogar der alte Freund Putins, Berlusconi, stimmte im Europaparlament für die Sanktionen. Nur wenige gab es, die zu ihm hielten.
Möglich, dass die besondere Heimtücke dieses Überfalls zu diesem Schulterschluss mitgeführt hat. Wie wurde die Weltgemeinschaft Anfang des Jahres auch hinters Licht geführt! Wie wurde immer beteuert, dass es sich an der Grenze zur Ukraine nur um Militärübungen handele und ein Angriff auf den Nachbarn nicht beabsichtigt sei. Man versuchte sogar, die Öffentlichkeit noch kurz vor dem Einmarsch mit dem in Szene gesetzten Scheinabzug von schwerem Gerät aus der Krim zu täuschen. Die europäischen Vermittler, vor allem Macron und Scholz, die noch wähnten, dass mit Putin eine diplomatische Lösung zu machen sei, wurden schlicht zum Narren gehalten. Dabei war die Entscheidung für den Überfall, wie man jetzt nüchtern erkennen muss, bereits längst gefallen, sie fiel vermutlich spätestens im Sommer 2021. Vieles spricht dafür, dass der engste chinesische Machtzirkel vorher eingeweiht wurde, denn Putin wartete, anders als bei dem Überfall auf Georgien während der Sommerspiele 2008 in Peking, diesmal höflich das Ende der diesjährigen Winter-Olympiade ab, bevor er die Invasion in die Ukraine befahl.
Wie kam es zu dieser desaströsen Entwicklung? Es macht Sinn, zunächst die eigene Rolle einmal kritisch zu prüfen. Selbstkritisch ist einzuräumen: Es kam nicht zu dem von Putin angestrebten Dialog. Immerhin hatte der Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien, die bereits der NATO beigetreten waren, Putin nicht daran gehindert, im September 2001 die Zusammenarbeit mit dem Westen zu suchen. Diese drei Länder hatten mit der Sowjetunion besonders schlechte Erfahrungen gemacht. Das Misstrauen war aber auch bei den baltischen Staaten groß. So kam es noch unter Schröders Kanzlerschaft im März 2004 zu einer zweiten NATO-Osterweiterung, und neben den baltischen Staaten kamen Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien hinzu. Dieser Schritt war ganz sicher eine erste Schlüsselerfahrung, die Putin zum Umdenken veranlasste, denn das war alles andere als eine diplomatische Offensive für eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur. So kam es zu einer schrittweisen Entfremdung und zur Wiederbelebung des alten Blockdenkens. Vorzuwerfen ist dem Westen, dass er nicht hinreichend versucht hat, herauszufinden, ob es zu einer friedlichen und vor allem vertrauensvollen Koexistenz hätte kommen können. Ein Dialog zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur im Rahmen souveräner Staatlichkeit hatte nie ernsthaft begonnen. Die Frage bleibt daher ungeklärt, ob Chancen einer vertrauensvollen Partnerschaft in der Vergangenheit verspielt wurden.
Rückblickend werden die Skeptiker sich jedenfalls im Recht fühlen: Hatte Putin nicht von Anfang an nur vor, das zusammengebrochene imperiale Gebäude unter der Hegemonie Moskaus, wenn auch in gemäßigter Form, neu aufzustellen? Und wie weit sollte es reichen? Außerdem: Waren die im Bundestag angekündigten demokratischen Reformen nicht einfach nur Schalmaienklänge ohne Substanz?
Die Ausgrenzung aus den Entscheidungsprozessen der NATO-Erweiterung empfand Putin nicht nur als persönliche Demütigung, sein Ruf bei seiner Entourage stand auf dem Spiel. Seine Macht war zu dem Zeitpunkt noch keineswegs gefestigt. Aber Putin nutzte seine Chance. So war er der erste, der Bush nach 9-11 seine Solidarität gegen den Islamismus anbot und Hilfe bei der Terrorbekämpfung. Je mehr sich die USA im Kampf gegen den Islamismus verstrickte (Irak, Syrien, Afghanistan) und am Ende mit den Westmächten versagte, umso mehr war es Putin möglich, die Außen- und vor allem die Innenpolitik nach seiner Melodie auszurichten. „Michael Kasjanow, zu jener Zeit Putins Ministerpräsident, erklärte später, jede Kritik sei (in Folge von 9-11, d. V.) wie durch Zauberei plötzlich verstummt.“ (Kasparow, Warum wir Putin stoppen müssen, dva, 195)
Im eigenen Machtbereich stand Putin vor schweren Herausforderungen, so war der von Jelzin geerbte Konflikt mit der mehrheitlich muslimischen Tschetschenischen Republik, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte, zu lösen. Nun konnte die Weltgemeinschaft Putin über die Schulter schauen: harte Schläge, kompromisslos auf Vernichtung des Gegners abzielend. Die Hauptstadt Tschetscheniens Grosny wurde komplett zerstört, wobei eine horrende Zahl an zivilen Opfern beklagt wurde. Der darauffolgende Anschlag tschetschenischer Rebellen in Moskau 2002 sollte die Welt auf diese russische Brutalität aufmerksam machen. Am Ende starben im Dubrovka-Theater 125 Geiseln durch das Gas russischer Spezialkräfte. Dem folgte der schreckliche Anschlag von Beslan im September 2004, bei dem mindestens 350 Geiseln in die Hände von tschetschenischen und inguschetischen Terroristen fielen. Sie forderten in der Hauptsache den Rückzug russischer Truppen aus Tschetschenien und den Rücktritt Putins. Durch Fahrlässigkeiten und ungeschickte Interventionen der russischen Einsatzkräfte eskalierte die Situation, wobei mindestens über 300 Geiseln, darunter 186 Kinder, getötet wurden. Ganz sicher hat die Brutalität mit dazu beigetragen, dass nach 10 Jahren Intervention in Tschetschenien der Widerstand letztlich gebrochen wurde und eine Marionettenregierung eingesetzt werden konnte. Sah so ein Erfolg aus? Kritiker wie Boris Nemzow hatten für die 1,5 Mio. zählende Ethnie eine zivile Lösung gefordert. Nicht zuletzt wegen der haarsträubenden Vertuschungsversuche und Falschmeldungen der Behörden und der Unfähigkeit, unschuldige Opfer zu schützen, kam auch in der weltlichen Welt die Vermutung hoch, ob nicht wieder der alte Repressionsapparat, der nur brutale Härte kannte und dem der Schutz von Menschenleben nicht viel galt, wieder am Werk gewesen sei.
Wer war nun dieser Mann, der zunächst durch den Westen auf sich zurückgeworfen war und dann die sich eröffnenden Spielräume geschickt für den Ausbau seiner Machtambitionen nutzte? Seine mentale Prägungszeit war weitgehend abgeschlossen, als Jelzin den smarten Geheimdienstler Putin zu seinem Mitarbeiter und dann 1999 zu seinem Nachfolger erkor. Da war er 47. Der KGB als Lehrmeister ist keine gute Schule für die Führung eines zivilisierten Landes, erst recht nicht für ein Land, in dem grundlegende rechtsstaatliche Strukturen erst aufgebaut werden mussten. (Wie hätte im Übrigen der Westen reagiert, wenn ein CIA-Chef, zumal ohne demokratische Legitimation, die Amtsgeschäfte in den USA übernommen hätte?) Wir wissen nicht, wie ernst Putin es mit dem Rechtsstaat wirklich einmal gewesen war, ein „lupenreiner Demokrat“ (Schröder) war er jedenfalls nie gewesen; Putins politische Agenda schälte sich nach einer anfänglichen Orientierungsphase schnell heraus: Statt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit unabhängiger Justiz und Pressefreiheit, wurde an bekannte Strukturen des alten Machtapparates angeknüpft, eine ihm ergebene Entourage aufgebaut und der Machtapparat schrittweise auf seine Person zugeschnitten. Man kann sagen, wenn er Machiavelli nicht gelesen hat, so hatte er ihn intuitiv mit hohem Talent verstanden: Wer nicht für ihn war, galt leicht als Verräter. Wer für ihn war, wurde reich belohnt. Schon Cesare Borgia, den Machiavelli bewunderte, machte es so: „Er gewann alle Anhänger (der anderen Seite, modern gesprochen: prominente Persönlichkeiten aus der westlichen Welt, d. V.), indem er sie in seine Dienste nahm, ihnen beträchtliche Apanagen aussetzte und sie mit Ehrenämtern … betraute.“ (Machiavelli, Der Fürst, 27) Auf diese Weise gewann er eine Reihe von amici, darunter die ehemaligen Staatsoberhäupter Berlusconi und Schröder. (Putin wird vermutlich überrascht gewesen sein, wie günstig der ehemalige Bundeskanzler des wirtschaftsstärksten westeuropäischen Staates zu haben war.)
Und es kam zu einem recht einfachen Deal mit den Oligarchen, etwa ein Dutzend an der Zahl. Wie Räuberbarone durften sie ihre schon zu Jelzins Amtszeit unter den Nagel gerissene Beute behalten, immerhin etwa die Hälfte des russischen Volksvermögens, allerdings unter der Bedingung, Putin, der wahrscheinlich auch früh einen gewissen Anteil für sich und seine Familie abgezweigt hatte, in seinem politischen Machtbereich nicht in Frage zu stellen. Dieses Agreement schien in der ersten Dekade von 2000 bis 2010 tatsächlich ganz gut zu funktionieren. So konnte Putin noch in seiner Bundestagsrede stolz von einem 8%igen Wachstum berichten.
Wie früh Putin dabei in dieser Zeit bereits nach altem KGB-Muster seine Innenpolitik gestaltete, illustriert folgende Begebenheit: Im Sommer 2000 besuchte Clinton Moskau und gab hier u. a. dem Radiosender „Echo Moskau“ ein einstündiges Interview. „Der Sender gehörte zur Media-MOST-Gruppe von Wladimir Gussinski, der Putin im Wahlkampf die Gefolgschaft verweigert hatte. Clinton klang überrascht, als er gefragt wurde, ob er je die Staatsgewalt gegen Kritiker oder die Medien eingesetzt habe. ‚So etwas habe ich nie getan. Das wäre illegal!‘ Höflich wie er war, ließ Putin nach Clintons Abreise eine Woche verstreichen, bevor er Gussinskis Verhaftung befahl.“ (Vgl. Kasparow, 185) Gussinski wurde später durch einen Zwangsverkauf an den Staatskonzern Gazprom quasi enteignet, verhaftet und floh dann aus Russland. Heute lebt er im Exil.
Vom Scheitern eines postsowjetischen Imperiums
Ökonomisch schien Putins Rechnung aufzugehen. In der Dekade von 2000 bis 2010 hatte sich das BIP pro Kopf von rund 1500 (!) USD auf fast 16 Tsd. USD etwa verzehnfacht, ein sehr beachtenswerter Erfolg. Nur blieb die erhoffte Strahlkraft aus. Die Erklärung von Alma-Ata vom Dezember 1991, ebenfalls noch unter Jelzin, entließ die ehemaligen Sowjetrepubliken in die Unabhängigkeit (Zusicherung der staatlichen Souveränität), verhieß zivilisatorische Standards wie im Westen (Achtung der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten, friedliche Regelung von Konflikten und Ablehnung von Gewalt), aber sie blieben substanzlose Bekenntnisse, weil die Zentralmacht letztlich darauf spekulierte, den geopolitische Herrschaftsbereich unter der Hegemonie Moskaus zu konservieren.
Man setzte auf eine neue Gemeinschaft, die GUS, und fügte dort hoffnungsvoll den Passus hinzu, dass man sich für weitere Mitglieder offenhalten wolle. An wen dachte man da? Jugoslawien jedenfalls zerfiel 2003, die nächste europäische Tragödie einleitend. Statt der Erweiterung wurde diese Staatengemeinschaft schließlich nur eine Schimäre, vor allem der Einmarsch russischer Truppen in Georgien 2008 versetzte den möglichen Hoffnungen einen Schlag. Hintergrund war die recht erfolgreiche Ziivilisierung des multiethnischen Staates durch den Präsidenten Saakaschwili – die Mafia wurde erfolgreich bekämpft und Georgien kletterte auf dem Korruptionsindex auf z. Z. Platz 45 (!) von 179 Ländern (vgl. Korruptionsindex in de.wikipedia.org) – und die Öffnung zum Westen. Ihm folgte 2009 mit Albanien und Kroatien die dritte NATO-Osterweiterung. Die Annexion der Krim 2014 versetzte schließlich der GUS den Gnadenstoß: Bei Wikipedia ist zu lesen, man treffe sich zwar noch, aber „Gipfeltreffen unter Beteiligung aller Staatsoberhäupter hat es seit Jahren nicht mehr gegeben.“ Eine Vision ist gescheitert.
Die Ukraine: Ausbruch aus der alten Kiew-Rus-Tradition
Die Erklärung von Alma-Ata war aus der Not geboren und beruhte bei den ehemaligen Sowjetmachthabern auf einem Missverständnis, nämlich dass die ehemaligen Vasallen sich weiterhin als willfährig erweisen würden.
Obwohl die Ukraine das flächenmäßig größte europäische Land in Europa ist, müssen wir bekennen, dass wir Westeuropäer bis zur jüngsten Gegenwart herzlich wenig über dieses Land wussten. Jedem sei daher Schlögels „Entscheidung in Kiew“ (Hanser, 2015) wärmstens als Lektüre empfohlen. Beschämt muss ich gestehen, der ich Kiew zweimal besucht hatte, wie wenig ich von diesem Land und seinen Menschen wusste. Wo also beginnen?
First of all, anders als Putin in einer Rede seinen Landsleuten vortäuschte: Die Ukrainer, sie sind ein eigenes Volk mit einer eigenen Sprache, das zudem lange unterdrückt worden war. Über zwei Jahrhunderte war die Schriftsprache unter der Herrschaft russischer Zaren verboten, Zar Alexander II. (1818 – 1881) verbot bspw. noch im 19. Jh. mit dem Emser Erlass von 1876 alle ukrainischen Publikationen. Russisch galt als die literarische Sprache. Mit dem Zusammenbruch des Zarenregimes 1917 eröffneten sich mit der Unabhängigkeit der Volksrepublik Ukraine erste Chancen. Bereits 1920 wurden aber die Vereinbarungen noch unter Lenins Herrschaft gebrochen: Die Rote Armee zerstörte aufkommende Hoffnungen auf eine Unabhängigkeit. Stalins Herrschaft stellte dabei alles Vorherige in den Schatten: Die brutal durchgesetzten Zwangskollektivierungen auf dem Lande traf die Ukraine, das Land mit den fruchtbarsten Böden Europas, besonders hart. Der schrecklichen Hungersnot, dem Holodomor, fielen schätzungsweise rund 4 Millionen Ukrainer zum Opfer. Bis heute ist sich die Wissenschaft nicht einig, ob der Holodomor ein kalkulierter Genozid Stalins gewesen war. Vieles spricht dafür, auch wenn das unter der Regierung Putin ungern diskutiert wird. In Kiew hingegen gibt es seit 2008 ein Memorial für die Opfer der Hungerskatastrophe.
Die Ukraine ist kein einheitliches Gebilde wie bspw. Finnland, weder ethnisch noch geopolitisch. Wenngleich mehrheitlich orthodox, so ist die Bevölkerung auch hier gespalten in eine prorussische Kirche, die sich nach dem Moskauer Patriarchat ausrichtet, und in die größere orthodoxe Glaubensgemeinde, die sich von Moskau unabhängig erklärt hat. Beide Kirchen verurteilen jedoch den Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, ein weiterer Schritt in Richtung einer eigenen Identitätsbildung.
Von der Presse wissen wir, wie krisenreich die Jahre nach der Unabhängigkeit gewesen waren, und wie zerrissen das Land, bis sich schließlich eine prowestliche Tendenz abzeichnen sollte. 2011, also bereits unter dem Präsidenten Janukowytsch, kam es zu einem 1200 Seiten starken Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, das neben Zoll-, Steuer- und Wettbewerbsrechten auch Maßnahmen zur Eindämmung der Korruption beinhaltete. Die Ratifizierung war eigentlich bereits eine ausgemachte Sache, verzögerte sich nur wegen einer Reihe von unschönen Korruptionsaffären und Gerichtsscharmützeln. Moskau versuchte noch einmal, die prowestliche Hinwendung rückgängig zu machen und das Ruder herumzureißen.
Psychologisch erwies sich die Entscheidung Janukowytschs, die Unterzeichnung des Dekrets im November 2013 auf Druck Moskaus abzulehnen, jedoch als höchstbrisant. An diesem Assoziierungsabkommen hingen z. T. vielleicht überhöhte Hoffnungen, gefüttert von erheblichen Kreditzusagen. Aber es winkte der westeuropäische Markt! Die ukrainische Wirtschaft war andererseits auch mit Russland gut vernetzt, die Hälfte der ukrainischen Exporte ging bspw. in das Nachbarland im Norden, von der Abhängigkeit von den Gasimporten ganz zu schweigen. Man war also gut beraten, mit beiden Seiten im guten Benehmen zu bleiben. Statt eine diplomatisch intelligente Lösung anzustreben, brach nun eine dramatische Eskalation aus, die eine Win-win-Situation für alle Beteiligten zunichte machte. Stattdessen aktivierten sich Ressentiments, verhärteten sich alle vermeintlich überholten Feindbilder – auf beiden Seiten.
Der Majdan …
Putin sah sich mit seinem Russland recht gut entwickelt, und da kam nun im Westen der ökonomische Riese daher, der den Ukrainern schlicht eine bessere Zukunftsperspektive zu bieten schien. Diese Braut bot sich zudem noch mit einer beachtlichen Mitgift an. Man mag es banal finden, aber so läuft eine Partnerwahl nicht nur im Tierreich. Man ging auf die Straße, und die Demonstrationen in Kiew boten Stoff für verschiedene Narrative. Wer nicht dabei war, hatte Mühe, sich ein eigenes Urteil bilden. Im November 2013 fing es mit bescheidenen 100 Demonstranten an und hörte mit Barrikadenkämpfen im Stil der Pariser Kommune mit einer Millionenbeteiligung im Februar 2014 auf.
Man sollte bspw. Schlögel lesen (133 ff.), der die Atmosphäre erlebte und die Behauptung Putins, es habe sich um „Faschismus“ gehandelt für erlogen hält. (Schlögel kommt übrigens selbst von der ganz linken Studentenbewegung und ist vollkommen unverdächtig, etwa faschistoide Bewegungen zu verharmlosen.) „Man muss Hunderttausende, die sich in der Neujahrsnacht eingefunden und zum Konzert der Band ‚Okean Elsy‘ gekommen waren, ansehen. Nur große, starke, selbstbewusste Bewegungen bringen im Kampf eine ‚Offene Universität‘, Krankenhäuser, die Versorgung von Tausenden von Verletzten zustande, organisieren Konzerte und schieben ein Klavier zwischen die Fronten … (Aber: d. V.) Die Gewalt hat ebenfalls ein Gesicht, und ich behaupte, dass man sie erkennen kann. Da sind die hochgerüsteten Roboter in Schwarz, da sind die Scharfschützen, das sind die Schläger, die Verwundete aus den Krankenhäusern geholt haben, um sie zu quälen und zu töten: Seht, das werden wir mit euch machen. Und es sind die gezielten Schüsse auf die auf dem Pflaster der Instytutska- und Hruschewskyj-Straße Liegenden, schon Getroffenen, aber die nächsten Schüsse gelten schon den Helfern, die den Verwundeten zu Hilfe geeilt waren.“ (Schlögel 135) Janukowytsch hatte sich zum Vasallen Putins gemacht, für Putin schien der „Wankelmut der Menge“ (Machiavelli, 23) hingegen wie ein Verrat. Aber kein Zweifel, auf welcher Seite der Westen hier stand: Es war vom Grund her eine zivile Protestbewegung, die für sich das formal zugebilligte Recht auf Selbstbestimmung einforderte
…und die Folgen: Politik als Rache
Obwohl der Staatsapparat alle Register des Terrors zog, musste Janukowytsch fliehen und in Russland um Asyl nachsuchen. Da er Hals über Kopf geflohen war, konnte sich die Bevölkerung an seinem Beispiel sehr anschaulich einen Einblick in das hochkorrupte System verschaffen, das sich mit Putin verbunden hatte.
Für Putins überkommenes imperiales Selbstverständnis war die Weigerung, sich in das GUS-System einbinden zu lassen, jedoch keine Schlappe wie die anderen. Da die Ukraine sich wirtschaftlich bis dahin nicht erholt hatte, wähnte er sich am längeren Hebel. Das BIP pro Kopf schwankte in der Ukraine seit 2005 zwischen 3000 und 4000 USD und lag bspw. noch unter dem von Belarus. Die Ukraine zeigte bis zur Wahl von Selensky keine nachhaltigen Konsolidierungstendenzen, die Wirtschaftsschwäche korrelierte mit einer grassierenden Korruption, die allerdings von der in Russland noch übertroffen wurde (Ukraine Platz 117, Russland Platz 129).
Die Ukraine war traditionell ein Kernland des russischen Imperiums gewesen, wenn auch nur als subalterner Satellit. Sich nun an die zugesagten Rechte auf Selbstbestimmung zu halten, hätte eines gesicherten Rechtsverständnisses bedurft, mindestens wie es in Rom schon üblich war: Pacta sunt servanda. Hatte Putin das? Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln. Dabei war die Rechtslage eindeutig: Im Budapester Memorandum, nur 20 Jahre zuvor, wurde der Ukraine die Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen von Russland, die USA und Großbritannien zugesichert. Im Gegenzug zu den von den Signatarmächten zugesicherten Souveränitätsrechten verzichteten die Atommächte Ukraine, Kasachstan und Belarus auf ihr atomares Kriegspotential. Dieser Verzicht war von epochaler Bedeutung, umso dringlicher waren diese Vereinbarungen, die sich u. a. explizit auf die Charta der Vereinten Nationen bezogen (Gewaltverzicht), einzuhalten. Darauf konnte sich die Ukraine verlassen.
Richtig wäre es damals vielleicht gewesen, die Krimfrage in eine Rahmenvereinbarung mit einzubinden, wenn es Russland denn so wichtig gewesen wäre. Hatte man es damals bei den Verhandlungen versäumt? Wir wissen es nicht. Jedenfalls wurde mit dieser Vereinbarung Völkerrecht geschrieben. Statt sich nun darein zu finden oder eine friedliche Lösung zu suchen, reagierte Putin frei nach Machiavelli: „Ein kluger Machthaber kann und darf sein Wort … nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde.“ (Machiavelli, 72) Hätte es hier noch eine diplomatische Lösung geben können? Minsk II war ein später Versuch – er scheiterte.
Die sehr zielstrebige Landnahme der Krim infolge der Majdan-Ereignisse hatte durchaus eine sehr persönliche Komponente. Die Winterspiele in Sotchi waren für Putin ein Prestigeprojekt par excellence. Es wurden keine Kosten gescheut, wie im Westen auch wurde dieses Projekt um ein Vielfaches teurer als budgetiert. Mit geschätzten 50 Mrd. US-Dollar wurden die Winter-Spiele vier Jahre zuvor in Vancouver (6 Mrd.) deutlich übertroffen. Ein Grund für die Teuerung war wahrscheinlich der korrupte Filz: „Nach Angabe des Economist sicherten sich allein die Unternehmen von Putins altem Judo-Kameraden Arkadi Rotenberg Aufträge im Wert von 7,4 Mrd. Dollar.“ (Kasparow, 355) Aber das war es Putin wert, um der Weltöffentlichkeit das Potential Russlands unter Beweis zu stellen. Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätten die Unruhen auf dem Majdan also nicht ausbrechen können. Statt anerkennender Berichterstattungen wurden die olympischen Ereignisse von den Ereignissen in Kiew mehr und mehr aus den Schlagzeilen verdrängt. Die Winterspiele endeten quasi konzertiert mit der Flucht Janukowytschs nach Russland, ein Debakel: Der Propaganda-Effekt hätte nicht schlimmer konterkariert werden können. Dabei hatte sonst alles gestimmt: Russland stand im Medaillenspiegel erstmals auf Platz 1, gefolgt von Norwegen. Vier Jahre vorher in Vancouver belegte Russland dagegen nur Platz 11.
Putin hatte zuvor alles getan, um sein Land der zivilisierten Welt als ein freundliches Gesicht zu zeigen. So hatte er noch im Dezember seinen Erzrivalen, den ehemaligen und eigensinnigen Oligarchen Chodorkowsky, den er zuvor geradezu vernichtet hatte, aus der langjährigen Haft entlassen und in die Schweiz ziehen lassen. Vergebene Liebesmüh. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verknüpfte Putin seine persönlichen Gefühle mit dem Kampf um den Erhalt des Restimperiums. Eine gefährliche emotionale Unterströmung, bittere Enttäuschung, gemischt mit Hass, floss in seine Politik ein. Anders lässt sich die teilweise überhastete und plump durchgeführte Annexion der Krim kaum erklären. Selbst mögliche Legitimationshilfen wie das Hinzuziehen der OSZE bei einem Referendum wurden von Russland abgelehnt, wie auch später in Donezk und Luhansk die OSZE an ihrer Arbeit gehindert wurde, als ob ihm die Reaktion des Westens nunmehr vollkommen gleichgültig geworden wäre.
Seine Propaganda erfuhr eine zynische Steigerung: Ab diesem Zeitpunkt wurde jedes auch noch so absurde Narrativ, das zu einer Rechtfertigung des eigenen Handelns für tauglich erachtet wurde, herangezogen, dabei im Grunde nur auf die eigene Massenbasis im Mutterland abzielend. Der Außenminister Lawrow erwies sich hier bereits als sein treuer Begleiter. „Selbst in der Diplomatie … darf ein altgedienter Profi wie Außenminister Sergej Lawrow alle Hemmungen fallen lassen und in demagogischer Rhetorik vom ‚Genozid am russischen Volk‘ in der Ukraine sprechen.“ (Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew, 2015) Der Vorwurf eines Genozids wurde auch in Bezug auf die Separatistenbewegung im Donbas von Putin und der gleichgeschalteten russischen Presse immer wieder ins Spiel gebracht, ohne dass z. B. unter Einbeziehung der OSZE irgendwelche belastbaren Beweise vorgelegt wurden.
Die Weltgemeinschaft ließ sich nicht täuschen. Die UN-Generalversammlung verurteilte die „vorübergehende Besetzung der Krim“ und erkannte eine Sezession nicht an. Auch für China ging eine Anerkennung der Sezession der Krim zu weit, wohlwissend, dass es dann in der Taiwan-Frage wenig in der Hand gehabt hätte. Während die russische Bevölkerung der Halbinsel am Schwarzen Meer wenig Beachtung schenkte – vor Putins Landnahme war die Krim nicht auf ihrem Schirm, denn mit der gewonnenen Reisefreiheit bevorzugte sie andere, mediterrane Reisedestinationen -, war die Krim für Putin aus strategischen Gründen wichtig. Aber man sollte auch die ökonomische Seite nicht übersehen: Vor der Krim befinden sich Ressourcen, die, wenn sie denn erschlossen worden wären, 1/5 der ukrainischen Energieimporte ersetzt hätten. Es ging also auch um Beute. Ein klares Votum der Vereinten Nationen, die mit 100 Stimmen diese Landnahme verurteilten, beeindruckten ihn nicht mehr.
Postsowjetische Strukturen – fragiles Russland
Die erste Dekade nach dem Zerfall der Sowjetunion verlief nicht nur in Russland desaströs, mit Putins Machtantritt verdoppelte sich zunächst, wie erwähnt, das Bruttoinlandprodukt zwischen 2000 und 2010 recht beeindruckend, besser jedenfalls als in der Ukraine. Danach wurde es holpriger, und vor allem nach 2014 kriselte es deutlich. Heute steht das Land mit rund 10 Tsd. USD pro Kopf rund 10 % schlechter da als im Jahre 2008 mit rund 11600 USD pro Kopf. Das Krim-Abenteuer war Russland zumindest aus ökonomischer Sicht nicht gut bekommen. Die Auslandsgeschäfte litten deutlich. Investoren wendeten sich von Russland ab, die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen halbierten sich. Andere Staaten aus dem ehemals kommunistisch gesteuerten Raum wie China, verzeichneten dagegen einen rasanten Aufschwung. Das gilt im Übrigen auch für Bulgarien, das sich, durch Rumänien gepuffert, von russischen Störmanövern weitgehend verschont, analog wie sich China positiv entwickeln konnte und mittlerweile auch ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ausweisen kann als Russland. Mit diesem wirtschaftlichen Erfolg korreliert die vergleichsweise geringe Korruption (gemessen an der Wirtschaftsleistung). Bulgarien und China liegen beim CPI 2020 im Ländervergleich von 179 Staaten auf Platz 69 bzw. 78. (vgl.transparency.de; vgl. auch www.laenderdaten.info)
Die reichen Naturressourcen erwiesen sich als Modernisierungsbremse. Der Staat schien mühelos mit seinen Exporten zu verdienen und konnte erhebliche Rücklagen bilden, aber die notwendigen Schritte in das 21. Jh. blieben weitgehend aus. Putin habe Russland in einen „diktatorischen Petrostaat ausgebaut.“ (Kasparow, 290) Das hat viele Bürger in Russland enttäuscht. Putin hat anders als bspw. Norwegen die enormen Staatseinnahmen aus Exportverkäufen von Gas und Öl weniger in zivile Projekte investiert, sondern verstärkt in den Repressionsapparat und in den militärisch-industriellen Komplex. Angesichts der verknöcherten Oligarchenstruktur ergab sich daraus eine deutlich größere Ungleichverteilung in den Einkommens-und Vermögensverhältnissen als in den meisten, wohlhabenderen westeuropäischen Staaten.
Zwei wichtige Parameter können diese Ungleichverteilung nur andeutend belegen: Der Gini-Koeffizient ist ein wichtiges Maß der Reichtumsverteilung. Je höher er ist, desto ungleicher die Verteilung: Bundesrepublik 31.1, Russland mit einem halb so großen Pro-Kopf-Einkommen: 37,7. Noch deutlicher wird das Bild, wenn man sich den Faktor anschaut, der die oberen 20 % von den unteren 20 % der Bevölkerung trennt. In der Bundesrepublik beziehen die oberen 20 % 4,3-mal so hohe Einkommen wie die unteren 20 %, in Russland ist die Kluft mit einem Faktor von 6,6 erheblich größer. Die Normalbevölkerung reagiert auf diese Verhältnisse auf ihre Weise: „Nie haben so viele Menschen Russland verlassen wie heute“, stellte Schlögel bereits 2015 fest. Eine andere Gruppe hingegen, die Oligarchen, fühlten sich ausgesprochen wohl: „Bei Putins Machtübernahme im Jahr 2000 gab es in der Forbes-Liste der reichsten Männer keine Russen. Im Jahre 2005 hatten es 36 von Putins Günstlingen in die Liste geschafft. Drei Jahre später waren es 87, womit Russland mehr Milliardäre hatte als Deutschland und Japan zusammen – und das in einem Land, in dem 13 Prozent der Einwohner mit einem Monatseinkommen von weniger als 150 US-Dollar unter der Armutsgrenze leben.“ (Kasparow, 298) Die Günstlinge besaßen nach den USA nicht nur die zweitgrößte Flotte an Super-Yachten, sie sind auch die zweitgrößte Kundengruppe bei den neu gebauten Yachten. „Ihr Anteil an den derzeitigen Projekten über 40 m Länge beträgt ca. 13 %.“ (Vgl. Stefan Paulsen in der FAZ v. 08.03.2022) Rund 160 m misst die z. Zt. längste Privatyacht der Welt, die sich im Besitz des Oligarchen Abramowitsch befindet. Geschätzte Kosten: ca. 500 bis 900 Mio. €.
Die repressive Atmosphäre eines empathiearmen Repressionsapparats, gepaart mit einem nepotisch kontaminierten Oligarchensystem, verschreckt vor allem die intelligenteren Köpfe des Landes. Die mentale Betäubung lässt sich nirgends besser als bei der Patentanmeldung illustrieren, die die Innovationskraft einer Volkswirtschaft spiegelt: Pro 1 Mio. Einwohner meldeten zwischen 2009 und 2018 deutsche Unternehmen 1812 europäische Patente an, die Japaner 1048 und die Amerikaner 535. (Diese Unterschiede darf man nicht falsch interpretieren, die Japaner sind keineswegs weniger innovativ als die Deutschen und die Amerikaner sind allein durch die regionalen Cluster enorm stark). Aber signifikant ist der krasse Abstand zu Russland: 6, während selbst China mit 12 besser dasteht. Ein klares Zeichen, dass die kontraproduktiven Strukturen in der postsowjetischen Epoche nach wie vor in der Zivilgesellschaft eine fatale Wirkung entfalten. In einer repressiven Atmosphäre werden Ängste und Duckmäusertum gezüchtet, Kreativität aber braucht Luft, wenn sie nicht ersticken soll. Für den Kreml gäbe es also gerade im Zivilbereich viel zu tun.
Das System Putin kristallisiert sich heraus
Die Krim-Annexion hatte Russland nicht nur isoliert, sie war auch ökonomisch kein Erfolg gewesen. Die Reputation war schwer angeschlagen, aber es sollte noch schlimmer kommen. Die Aufdeckung des staatlich organisierten Dopings der Athleten bei Olympia im Dezember 2014 machte den ohnehin schon angeknacksten Triumph in Sotschi gänzlich zunichte. Dass staatliche Organe nicht nur alle Gebote der Fairness mit den Füßen traten, sondern auch systematisch die Gesundheit der eigenen Sportler aufs Spiel setzten, ist in der Geschichte des Sports einmalig. Solch einen Betrug hätte man allenfalls bei den Gastgebern der Olympiade 1936 in Berlin vermutet. Noch bei der letzten Olympiade in Peking im Winter 2022 durfte Russland immer noch nicht offiziell antreten, aber die russischen Athleten durften immerhin ihre reale Leistungsfähigkeit unter strengen Dopingkontrollen unter Beweis stellen: Nun landeten sie wieder abgeschlagen auf Platz 9.
Das alles machte in erschreckender Weise klar, wieweit das machiavellistische Denken in die verschiedenen Staatsorgane durchgesickert war. Allerdings: Viel besorgniserregender war die rücksichtslose Unterdrückung der Pressefreiheit, zuletzt verschärft mit dem neuen Mediengesetz, das Journalisten 15 Jahre Haft androht, wenn sie „Falschinformationen“ verbreiten. Nach den dreisten Lügen in jüngster Vergangenheit wären Putin und Lawrow die Ersten, die verurteilt werden müssten. Aber wir wissen um das zertrümmerte Rechtswesen und wissen, gegen wen dieses Gesetz gerichtet war.
Die Berichte über schwerste Menschenrechtsverletzungen häuften sich, wie der heimtückische Mord von Boris Nemzow auf der Moskwa-Brücke in der Nähe des Kremls ein Jahr nach Sotschi im Februar 2015, die schwersten Zerstörungen von Aleppo durch russische Bomben im Oktober 2016, um den syrischen Diktator Assad zu stützen, der Giftanschlag auf den ehemaligen KGB-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter im März 2018 durch den russischen Geheimdienst. An dem Nervengift Nowitschok, entwickelt in russischen Laboren, starb wenig später eine völlig unbeteiligte Britin. Die Aufklärungsarbeit russischer Organe erfolgte in der Regel schleppend, im Fall der Journalistin Politkowskaja, die Opfer eines Giftanschlags im Jahre 2004 wurde, um dann zwei Jahre später ermordet zu werden. In dem Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder wurde der Rechtsbeistand der Ermordeten seinerseits ebenfalls ermordet und die Angeklagten freigesprochen. Erst in mühseligen Wiederaufnahmeverfahren kam es schließlich zur Verurteilung eines Täters. Die Nachfolgerin Natalja Estemirowa wurde in 2009 in Tschetschenien ebenfalls brutal ermordet. Die Fahndung nach dem Täter verlief bis heute ergebnislos. 10 Jahre später folgte der Tiergarten-Mord des Georgiers Changoschwili im August 2019 in Berlin. Hier hatte man nach richterlichem Urteil einen russischen Geheimagenten als Täter erwischen können. Es steht dem Leser frei, die Liste zu ergänzen, denn sie ist keineswegs vollständig. Es schälte sich ein klares Bild heraus: Personen, die als Verräter ausgemacht sind, und Personen, die als Bürgerrechtler über Missstände recherchieren, darüber berichten und sich politisch engagieren, sind in Russland wie in kaum einem anderen Land der Welt gefährdet – vielleicht von Mexiko abgesehen. Einer der bekanntesten letzten Opfer war der Oppositionspolitiker Nawalny, der in einem abenteuerlichen Verfahren zu einer langjährigen Lagerhaft verurteilt wurde.
Wer glaubte, dass sich hier nur Netzwerke gegen den Willen Putins verselbständigt haben, er selbst aber im Grunde ein integrer Patriot sei, wird eines Besseren belehrt, wenn er denn nur ein guter Beobachter ist: Drei Schlüsselsituationen geben Aufschluss über seinen Charakter: 1. Im Interview gab er einmal gegenüber einem westlichen Reporter an, dass Verrat für ihn ein unverzeihliches Vergehen ist. 2. Im Gefolge des Giftanschlags mit Nowitschok erwiderte Putin auf die Vorhaltung des Reporters, er gäbe, den Mordanschlag legitimierend, für die Opfer keine 5 Penny, und 3. eine Szene auf dem G20-Gipfeltreffen im November 2018 in Buenos Aires, eine Szene, die man unbedingt gesehen haben sollte: Hier begrüßten sich der Kronprinz Saudi-Arabiens, Mohammed bin Salman, und Vladimir Putin kumpelhaft wie zwei Komplicen in einer Weise, dass man Gänsehaut bekommt. (Putin war mit dem Nowitschok-Anschlag ein halbes Jahr zuvor belastet, der Mord an Kashoggi in dem saudischen Generalkonsulat von Istanbul lag gerade einmal einen Monat zurück; sie wussten voneinander.)
Der Überfall
Vielleicht bekam Putin in seiner KGB-Ausbildung ein paar Lektionen über den Militärtheoretiker Clausewitz, denn sein Überfall ging ganz nach seinen Empfehlungen vor sich. Überraschungsangriff, Maximalschlag, wobei Betrug und List selbstverständlich erlaubte Mittel sind, um den Gegner zu vernichten. Wie die Weltöffentlichkeit getäuscht wurde, hatten wir schon erwähnt, aber immerhin aus Rücksicht auf Xi Jinping befahl Putin den Angriff erst nach Beendigung der Olympischen Spiele. Letzterer bedankte sich, natürlich seinerseits auch machtpolitisch wohlkalkuliert, indem er die Diktion Putins übernahm und den Angriffskrieg als „Spezialoperation“ kleinredete. Singapur, mehrheitlich chinesisch, wird – wie auch Taiwan – sensibilisiert aufgehorcht haben.
Weltpolitisch wurde ein Tsunami losgetreten. Putin hat sich ganz offenkundig verrechnet. Er hoffte wohl mit einer massiven Truppenpräsenz und mit einem chirurgisch präzisen Militärschlag auf eine rasche Unterwerfung und Einverleibung ähnlich wie 1968 in der Tschechoslowakei. Aufgrund des unerwartet starken Widerstands der ukrainischen Armee wurde relativ schnell klar, dass die Einrichtung einer willfährigen Marionettenregierung schwer durchsetzbar sein würde, obwohl sich der korrupte Janukowytsch für diese Rolle andiente.
Eine einfache Überlegung hätte Putin warnen müssen: Anders als der fast 70jährige Putin, der in alten Sowjetkategorien denkt, blickt in der Ukraine eine ganze Generation auf eine souveräne Staatlichkeit zurück. Drei Jahre zuvor hatte sie in einer unbestritten demokratischen Wahl ihren Präsidenten gewählt. Das war etwas ganz anderes als die mit vielen Schikanen durchgeführten Scheinwahlen in Russland. (Vgl. Kasparow, 289 f.) Die Luft war in der Ukraine freier geworden, auch wenn die Nationsbildung keineswegs abgeschlossen war. Vor allem die Jüngeren empfanden sich als Ukrainer, nicht als Bürger eines ehemaligen russisch dominierten Imperiums. Wenn sie auch mit Selensky vielleicht nicht zufrieden waren, Putins Herrschaft wollten sie mehrheitlich auf keinen Fall. Anders dachte allenfalls die russisch-stämmige Bevölkerung im Donbas, die, von Moskau ermuntert, die Sezession anstrebten. Ob mehrheitlich, wissen wir nicht, denn eine seriöse Erhebung der Meinungsbildung hat es auch dort nicht gegeben. Vielmehr hatten sich die Fronten so unselig verhärtet, dass am Ende Minsk II keine Chance mehr hatte.
Hat Putin Clausewitz genau genug gelesen? Was bedeutet es konkret, wenn Letzterer schreibt, dass der Angreifer mit einem höheren Einsatz angreifen muss als der Angegriffene, denn dieser wird sich mit größerer Verbissenheit verteidigen. Was heißt es, wenn die Moral auf Seite der Ukraine ist? Eine ganze Generation Ukrainer, die man zahlenmäßig kaum einschätzen kann, aber sie gehen in die Millionen, wären prinzipiell bereit, ihr Land mit Herzblut zu verteidigen, notfalls auch in einem Guerilla-Krieg. Und hier scheint sich inzwischen der junge ukrainische Präsident zu genau der richtigen Identifikationsfigur entwickelt zu haben. Die Solidaritäts-Welle der umliegenden NATO-Staaten eingerechnet, bedeutet, Russland wird nicht ohne weitere schwere und abstoßende Kriegsverbrechen Landgewinne machen und Städte erobern können.
Man hofft, dass selbst das zögerliche China dem irgendwann Rechnung tragen wird, denn Putin hatte als Nächstes unterschätzt, was aber jeder Potentat im digitalen Zeitalter auf dem Zettel haben sollte: Über moderne Kommunikationsnetze kommen die meisten Bürger trotz der einschneidenden Unterdrückung der Pressefreiheit an die wichtigsten Informationen. Die russische Bevölkerung sieht also durch die diversen indirekten Quellen, wie ihr „Brudervolk“ systematisch unter den Granaten und Bomben leidet, und sie verlieren dabei ihre eigenen Soldaten zu Tausenden, vielleicht zu Zehntausenden. Wofür also?
Wird Putin einlenken?
Machiavelli schrieb den Potentaten und Tyrannen bereits im 16 Jh. ins Stammbuch: „Wer Herr einer freiheitsgewohnten Stadt wird und sie nicht zerstört, hat zu erwarten, von ihr zugrunde gerichtet zu werden.“ Der Grund: „Die Einwohner vergessen … ihre Freiheit und ihre alten Einrichtungen nie und führen sie unversehens beim geringsten Anlaß wieder ein.“ (Machiavelli, 19) Russland ist ein inzwischen unkontrolliert autokratisch geführtes Land. Selbst das faschistische Italien unter Mussolini hatte sich mit dem Faschistischen Rat eine Kontrollinstanz geschaffen, die den Diktator schließlich absetzte und ins Gefängnis steckte, als der angezettelte Krieg verloren war. Eine solche Instanz fehlt in Russland – das ist gefährlich. Putin ist von einer willfährigen Entourage umgeben, und seine Vorstellungen von seinem Land und der Welt scheinen mehr und mehr weit entfernt von der Realität. Wie manche seiner Diktatoren-Kollegen in der jüngsten Geschichte, scheint Putin ein Mann ballistischer Entscheidungen zu sein, gegensprechende Informationen werden ihn nicht zum Einlenken bewegen. Dieser Eindruck stimmt mit dem Psychogramm des im November 2020 verstorbenen amerikanischen Psychiaters und Analysten der CIA, Jerrold Post, überein, der Putin ein übersteigertes Selbstbild bescheinigt, und ergänzte, dass Putin nur durch eine harte, klare Ansage zu bremsen sein wird.
Mehrere Indizien sprechen dafür, dass der Coup gegen die Ukraine von langer Hand überlegt wurde. Das Hasard war kalkuliert. Wenn das ursprüngliche Maximalziel die Gesamtannexion der Ukraine gewesen war, so wird man sich davon verabschieden müssen? Aber was dann? Vieles spricht dafür, dass das Mindestziel, das in Putins völkische Strategie passt, die Landnahme von Donezk und Luhansk sein wird, wobei er wahrscheinlich noch mit weiteren Eroberungen liebäugeln wird, um sich eine Landbrücke bis zur Krim zu schaffen. Dazu müsste er mit der gewohnten Brutalität das ukrainische Militär soweit ausschalten, dass ein Gegenschlag mindestens für die nächste Generation unmöglich scheint. Der Krieg wird daher vermutlich unerbittlich weitergehen, so die ernüchternde Erkenntnis. Allzu große Hoffnung, dass Putin die vielen zivilen Opfer anrühren werden, sollte man nicht haben: Auf der Psychopathie-Checkliste erfüllt Putin mindestens 5 von 8 Kriterien.
Putin, ein failing man? Alea iacta est. Man wünschte sich ein sofortiges Ende der Kriegshandlungen. Eine Demütigung der Atommacht Russland sollte man sich jedoch nicht wünschen. Wo ist da eine Lösung in Sicht, wo ein Exit aus der fatalen Gewaltspirale? Bei Erfolg würde Putin, wie er hofft, womöglich als großer Staatsmann in die Geschichte Russlands eingehen; aber für den Fall des Scheiterns hat er auch bereits vorgesorgt: Im Dezember letzten Jahres, also zwei Monate vor dem Überfall auf die Ukraine, sicherte sich Putin die Option auf die Macht bis 2036 – und sollte sein Vabanque vollkommen schief gehen, hat er sich von der Duma die lebenslange Immunität zusichern lassen. Merkwürdig, der Machiavellist, der selbst so oft Rechtsnormen mit den Füßen getreten hat, rechnet damit, dass seine potentiellen Kläger sich gerade an dieses Gesetz gebunden fühlen werden.
Verwendete Quellen:
Garri Kasparow, Warum wir Putin stoppen müssen, dva, 2015
Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew, Hanser, 2015
Niccolò Machiavelli, Der Fürst
Korruptionsindex in de.wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Korruptionswahrnehmungsindex
transparency.de: https://www.transparency.de
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