Menschen reisten seit ewigen Zeiten zu Pferde, auf Eseln und Kamelen durch endlose Weiten, Schritt für Schritt, als sollte es so bleiben. Sie waren bei sich und ahnten nicht, was zur Entfaltung keimhaft in ihnen angelegt war.
Machen wir einen Sprung:
Die im 18. Jahrhundert entwickelte Dampfmaschine fand bahnbrechende Anwendungen. 1835 trieb sie die erste „Lokomotive“, wörtlich „sich von der Stelle bewegend“, von Nürnberg nach Fürth. Zu ähnlicher Zeit trieb sie Schiffe, später Autos und sogar Flugzeuge an!
Das waren gewaltige Schritte der Beschleunigung in einer Gesellschaft der Gemächlichkeit. Wie in einem Atemzug befreit sich der Mensch vom allzeit vertrauten Dienst des Tieres und löst sich fortlaufend aus altehrwürdigen Konventionen. Gewinn und Verlust in einem Zug?
Inzwischen waren wir auf dem Mond, haben Sonden auf dem Mars und kommunizieren weltweit über Satelliten im All.
Wege, Routen, Schienen, Straßen, Fluglinien erscheinen wie ein immer enger gewebtes Netz, das uns global verbindet, ergänzt durch das Telefon, den Computer, das Internet, und entlastet durch künstliche Intelligenz. Wir sind verwoben wie zu einem Organismus. Wohin sollen uns diese unerschrockenen Schritte noch weiterführen?
„Ich glaube, dass 99 Prozent der Dinge, die erfunden werden können, noch nicht erforscht sind“, so wurde Sebastian Thrun am 18.03.2020 in der FAZ auf Seite N4 zitiert.
Diese Sieben-Meilen-Stiefel-Schritte lösen neben fasziniertem Staunen auch Erschütterung und pure Angst aus. Viele fühlen sich einsam, haltlos und verloren und fragen nach Sinn und Ziel. Was ewig galt und zusammenhielt, hat seine Bindungskraft verloren.
Was ging verloren im kühnen Lauf?
Es ist eine zunehmend zwingende Heraus-forderung, dieser Frage ernsthaft nachzuspüren. Sehen wir die Dinge und uns selbst noch in gebührendem Bezug zueinander? Können wir aus seinem Kontext gelöste Aspekte in seiner Bedeutung überhaupt erfassen? Stehen auch Krisen und Chancen in Wechselbezug als Einheit zueinander? Bezeichnenderweise wählt die chinesische Sprache für beide Begriffe dasselbe Schriftzeichen.
Niemals in der Menschheitsgeschichte haben Generationen beieinander und doch in verschiedenen Epochen gelebt. Immer waren die Alten die Erfahrenen, Lehrenden und Vertrauen Schenkenden, der Ruhepol. Doch bei unverminderter Beschleunigung der Entwicklungen und dem daraus folgenden rasenden Wandel ändert sich auch das Gefüge in den Familien, den Zellen der Gesellschaft. Viele zerfallen und suchen sich neu.
Auch hier ist die Heraus-forderung deutlich, in wechselseitiger Wertschätzung ein würdiges, gerechtes und tragendes Miteinander wieder zu finden. Vielleicht findet das Wort WIR, betrachtet in einer umfassenderen Bedeutung, einen ganz neuen Wert.
Wir leben weltweit längst in einer Art distanzloser Gleichzeitigkeit, und sehen uns doch erstaunlicherweise (noch) nicht als Einheit, als einen Körper.
Vor 200 Jahren erhob sich der Mensch und befreite sich so kühn wie nie zuvor.
100 Jahre später sprach Georg Lucács angesichts der geistigen Situation seiner Zeit von einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Wolfgang Martynkewicz, „Das Zeitalter der Erschöpfung“, Seite 294).
Wir schauen nur auf 200 Jahre ungeheurer Entwicklung. Zurückblickend in die Weiten der Weltgeschichte erscheinen sie wie eine gigantische Schrittfolge in die Zukunft.
Wir nutzen diese technologischen Errungenschaften täglich, treiben die KI voran, jedoch primär als Kontrahenten im eigenen Interesse oder zum Vorteil der eigenen Staatengemeinschaft, und sind noch weit entfernt vom Bewusstsein menschlicher Verbundenheit im Dienst und in Verantwortung der einen Menschheit.
Sähen wir die Dinge doch in ihrem gesamten Lauf aus höherer Perspektive!
„Sehend sahen sie umsonst, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wussten sich der Schöpfung nicht zu bedienen“, heißt es schon in „Prometheus“, übersetzt von Gustav Schwab. Muss das vielleicht auf heute übertragen heißen: „und wissen sich des Geschaffenen nicht zu bedienen?“ Sind wir überfordert von dem, was wir können? – Sehen wir vor lauter Bäumen noch den Wald in seinem durchdringend pulsierenden System?
Rabindranath Tagore mahnte in seinen 1917 erschienen Aufsätzen zum Thema „Nationalismus“, (…) Konkurrenz sei in der Staatenwelt stets verderblicher als Kooperation (…) und in folgendem Zitat: „Jedes Individuum ist heute aufgerufen, sich und seine Umgebung auf eine neue Ära vorzubereiten, in welcher der Mensch seine Seele in der geistigen Einheit aller Menschen finden wird.“ (Jürgen Osterhammel, FAZ Feuilleton, 3. März 2020).
Befinden wir uns möglicherweise in einer Metamorphose? So jedenfalls bringt es Ulrich Beck in seinem 2017 erschienen Buch „Die Metamorphose der Welt“ eindrucksvoll zum Ausdruck.
„Das gestern Unvorstellbare ist auf einmal nicht nur möglich, sondern Wirklichkeit, und schafft einen neuen, kosmopolitischen Bezugsrahmen.“ ebd., Seite 61.
Haben diese gesamten Fort-schritte, auch KI, die künstliche Intelligenz, einen Sinn vielleicht „nur“ als Etappen auf dem Wege eines gewaltigen Bewusstseinsschrittes?
Schauen wir dazu noch Pierre Tailhard de Chardin:
„Eines Tages, nachdem wir Herr der Winde, der Wellen, der Gezeiten und der Schwerkraft geworden sind, werden wir uns in Gottes Auftrag die Kräfte der Liebe nutzbar machen. Dann wird die Menschheit, zum zweiten Mal in der Weltgeschichte, das Feuer entdeckt haben.“
Der Zug, den wir vor 200 Jahren bestiegen haben, hat ungeheuer Fahrt aufgenommen. Wir haben unser Dorf seinerzeit verlassen … und finden uns per Zoomschaltung in regem Austausch vor einem Bildschirm wieder, und zwar über Länder, Kontinente und alle Meere mühelos hinweg, und das während einer Ausgangssperre, zu der uns zurzeit eine Pandemie zwingt.
Auch die künstliche Intelligenz wird uns weiterführen, wenn wir sie im Dienste der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschen aller Länder der Erde unerschrocken nutzen.
KI – nur ein Schritt?