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Im Juni 2018 erschien das Buch "Für immer gezeichnet" der Architektin Ursula von Lilienfeld-Böse - eine ungewöhnliche Frau aus Essen-Kettwig. Als Herausgeber des Buches veröffentlichen wir hier das Vorwort zu ihrem Werk und gratulieren der Autorin zu diesem Ereignis.

Was heißt es – erfolgreich zu sein? Was heißt es, sein Leben zu leben?
Wenn wir auf die Welt kommen, können wir uns diese Fragen nicht stellen, später machen wir es nicht, weil unser Leben noch vor uns liegt, und es scheint uns, dass die Zeit für alle Antworten noch kommen wird. Nach einem langen und spannenden Weg blickt man zurück und merkt, dass sie immer noch unbeantwortet bleiben. Vielleicht, weil wir nie gefragt oder nicht zugehört haben – wer weiß.
Wie auch immer, alles, was wir verstehen können, liegt nicht in der Zukunft oder Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Wir können uns jetzt erinnern, wir können immer noch fragen.
Wer es tut, ist ein weiser Mensch.

Ich lernte Frau von Lilienfeld-Böse kennen, als sie darüber nachdenkt, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Mit 94 immer noch als freie Architektin berufstätig und sehr aktiv, neugierig auf das Leben. Eine Frau mit starkem Charakter ist sie, das merkt man sofort.
Die Erinnerungen aus ihrer Kindheit sind sehr klar und für die Erzählerin von großer Bedeutung. Bereits in den Vorschuljahren erlebt die kleine Ursula Dinge, die sie noch viele Jahre danach zu bearbeiten hat, um sie endlich zu begreifen. Sie überlebt mehrere lebensgefährliche Krankheiten, wird Augenzeugin des am Nazismus-Wahn erkrankten Deutschland von den ersten Tagen an.
Sie genoss in der Familie eine sehr strenge Erziehung und verdankt ihren Eltern viele Eigenschaften, für welche sie bis heute im beruflichen und privaten Leben geschätzt und geliebt ist.
„Ich bin ein Vater-Kind gewesen“, sagt die Architektin mit Stolz und zeigt eine schöne silberne Vase, welche Sie mit Ihrem Vater zusammen getrieben hat. „Es war keine Künstler-Familie, aber eine mit viel Sinn für alles Schöne.“
Doch obwohl Ursula sehr nah zu ihrem Vater steht und durch beide Eltern sehr geliebt ist, kennt sie wenig elterliche Liebkosung – dafür viel Disziplin. Und das ist ihr recht gewesen und ist es immer noch.
Die richtige Erziehung ist unsere einzige Chance, den Menschen auf die richtige Bahn zu bringen – diese Meinung vertritt die Autorin dieses Buches schon lange und spricht dabei aus eigener Erfahrung.
Selbst als Architekt tätig, sorgte der Vater der Autorin dafür, dass seine heranwachsende Tochter die wichtigsten Prinzipien seines Berufs sehr früh mitbekommt und verinnerlicht.
Die Jugend unserer Protagonistin ist reich an den verschiedensten Ereignissen und geprägt durch den Krieg. Die Charakterstärke der jungen Dame wird andauernd auf Probe gestellt und oft befindet sie sich in sehr bedrängter Lage, doch verspürt man in Ihrer Erzählung keinen Hauch von Opfermentalität, keine Ängstlichkeit. Sie geht durchs Leben mit offenen Augen und Neugier. Dieser Neugier ist zu verdanken, dass die in diesem Buch festgehaltenen Ereignisse viele wertvolle Details aus dem Leben von jungen Menschen dieser Zeit offenbaren.
Nach zermürbenden Monaten beim Arbeitsdienst darf Ursula endlich ihr Architektin-Studium in der technischen Hochschule zu Braunschweig anfangen. Der Krieg macht viele einfache Schritte ganz schwierig und doch ermöglichen die Kriegsverhältnisse anderseits einiges, was in friedlichen Zeiten gar nicht zustande kommen könnte.
So übernimmt die Frau von Lilienfeld bereits in ersten Praktikumsmonaten eigenständige Arbeiten für den Wiederaufbau der zerstörten und beschädigten Fabrikhallen.
Es kommt die Zeit für die erste Liebe, aber auch die Zeit für die großen Entscheidungen. Da das Studium in dem zerbombten Braunschweig nicht mehr möglich ist, zieht Ursula zusammen mit ihrem Freund nach Karlsruhe, wo sie nach einer kurzen Zeit heiraten.
„Wir waren Kinder, regelrechte Kinder“, schreibt sie später in ihrem Tagebuch.
Als Ursula mit Ihrem Studium fertig ist, geht auch der Krieg zu Ende. Kommen die besseren Zeiten? Es ist Frieden, Ursula ist eine diplomierte Architektin, hat eine eigene Familie – das Leben ändert sich zum Besseren. Doch eigentlich fangen die schwierigen Jahre für die junge Frau erst gerade an. Die Notizen aus diesem Lebensabschnitt öffnen dem Leser eine Welt mit viel Hoffnung und wenig Chancen.

Die Lebensumstände ändern erstaunlich wenig am eigentlichen Leben von Ursula und das ist sicherlich eine Erkenntnis, die die Geschichte dieser Frau so wertvoll macht.

Durch die kleinsten Details der Erzählung, humorvolle Passagen, aber auch direkte und ohne falsche Scheu gemachte Selbstbewertungen zeigt sich das eigentliche Sein einer selbstbewussten Frau mit klaren Vorstellungen vom eigenen Platz im Leben. Dieses Selbstbewusstsein ist der Autorin keinesfalls geschenkt – sie entwickelt es sehr schmerzhaft, kämpft unbewusst mit einem Trauma aus der Kindheit und lässt es sich von keinem anmerken.

Es ist immer Kampf in Ihrem Leben, welchen sie ganz natürlich übersteht – sie macht auch jetzt daraus kein Drama. Mit einem Lächeln erzählt sie bei einer Tasse Kaffee und Zigarette über die schwierigsten Tage ihrer Vergangenheit.
In dem Arbeitszimmer Ihrer Wohnung in Essen-Kettwig liegen die Zeichnungen für den Umbau des Rathausplatzes – so würde es richtig hübsch sein, so möchte sie es der Stadt Essen anbieten.

„Ich bin nach 90 ein bisschen langsamer geworden, habe aber auch mehr Erfahrungen gesammelt“, erzählt sie, „es ist nie zu spät, etwas zu lernen.“
Vor einem Jahr hat die damals 93-jährige Architektin an einem siebentägigen Seminar für Energieberater für Baudenkmale teilgenommen. Für das Thema „Denkmalschutz“ interessiert sie sich ganz besonders – die spannendsten Geschichten aus ihrem Berufsleben sind damit verbunden.
Rossi-Haus, Pagodenburg, Julius- und Jula-Thyssen-Haus – viele uns gut bekannte Bauten haben ihren Glanz der Frau von Lilienfeld-Böse zu verdanken. Sie ihrerseits fand in ihrem Beruf eine kräftige moralische Unterstützung, mit welcher sie viele Schwierigkeiten im persönlichen Leben überstehen konnte.
Nach der Trennung lebt sie viele Jahre alleine mit ihrer Tochter und arbeitet mit großer Leidenschaft und ungeheurem Durchsetzungsvermögen, was eine Frau in einer Männerwelt tatsächlich braucht. Es kommt die Bekanntheit, sie sucht nicht nach Aufträgen – die Arbeit kommt auf sie zu. Dieser Popularität folgt später auch das gesellschaftliche Ansehen und die Architektin wird aufgefordert, dem Klub „Soroptimist“ beizutreten.
Kann sich noch etwas großartig ändern? Es können mehr Projekte und andere Projekte kommen, die Einladungen von anderen Institutionen – die Architektur bleibt eine Konstante, die Achse ihres Lebens.
Nun, ausgerechnet diese Konstante wird unerwartet in Frage gestellt: Es kommt die große Liebe und fordert unverzüglich ihren Tribut. Das ist sogar die erste Frage, die manchem Leser vielleicht absolut unangebracht scheint und so direkt durch den Mann in den Raum gestellt wird: „Kannst du ohne Architektur leben?“
Man vermutet hier vielleicht ein großes Drama und täuscht sich, da die Entscheidung unverzüglich und schmerzlos fällt – „Ich denke schon.“
Meint sie das ernst? Kann sie wirklich alles hinschmeißen oder war es vielleicht mit der Architektur nicht ernst gemeint, trotz allem?
Weit ausgeholt? Stellen wir hier gar die Authentizität der Autorin in Frage? Wenn man an dieser Stelle in der Geschichte einen Punkt setzen würde, dürfte man hier weiter spekulieren. Aber das Leben ist mit dieser Frage einfach umgegangen und hat den Widerspruch beseitigt. Was genau das bedeutet, soll der Leser selbst nachlesen.
Mit ihrem zweiten Mann kommt viel Neues in Ihr Leben – auf einmal hat sie drei Kinder mehr, zieht nach Nordrein-Westfalen um, verbringt jedes Jahr mehrere Monate in Brasilien. Da, hinter dem Atlantik, warten auf sie nicht nur viele neue Freunde und Abenteuer, sondern auch manch interessantes Projekt. Ein buntes Leben führt sie. Mit ihrem Mann Peter segelt sie über den Atlantik zum anderen Kontinent, genießt das Leben.
Als sie älter werden und nicht mehr so weit reisen wollen, führen sie ihr gemeinsames Leben in Essen gewidmet der Kunst und Musik, geben zuhause Konzerte für die Freunde. Selbstverständlich ist Frau von Lilienfeld-Böse weiter als Architektin tätig. In Essen-Kettwig ist das Ehepaar gut bekannt – immer zusammen unterwegs (scherzhaft „unser Liebespaar“ genannt), immer gut gelaunt.
Im Jahr 2017 geht Peter Böse mit 93.
Es ist schon mehr als ein Jahr vergangen, aber sein letztes gelesenes Buch liegt immer noch neben seiner Betthälfte. „Der ist für mich einfach immer da“, sagt sie ruhig.
Heute gehen wir zusammen essen in ein ruhiges familiäres Lokal um die Ecke. Hier kennt sie jeder und sie begrüßt alle namentlich. Hier in Essen-Kettwig ist sie zuhause. Als ich daran denke, kommt mir plötzlich ein anderer Gedanke. Wenn mich jemand fragen würde, wie die Frau von Lilienfeld-Böse so ist, dann würde ich wahrscheinlich sagen – sie wirkt so, als ob sie immer zu Hause wäre.
Wenn ich sie später nach Hause begleite und wir in das von ihr gebautes Haus gehen, fasst sie vorsichtig und aufmerksam den Handlauf der Treppe im Treppenhaus an, dreht sich zu mir um und sagt: „Habe ich breiter gemacht als üblich, wissen Sie. So fühlt sich das doch gut an, es muss sich doch gut anfühlen, wenn man nach Hause kommt. Darauf muss ein guter Architekt doch achten.“

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