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„Es hat auf der Welt genauso viele Pestepidemien gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet.“ (Camus, Die Pest, S. 46) Es gibt in den Zeiten der Corona-Pandemie kaum eine spannendere Lektüre als „Die Pest“ vom durch einen tragischen Unfall zu früh gestorbenen Nobelpreisträger Albert Camus. Jeder Franzose kennt den Roman seit der Schulzeit, und natürlich auch Frankreichs Präsident Macron: „C`est la guerre“, mit dieser aufrüttelnden Ansprache begann er kürzlich seinen Lagebericht. Die Lage ist in etwa mit unserer in Deutschland vergleichbar, aber solch drastische Töne wird man bei uns so gut wie nicht hören.

Der Roman spielt in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts: Es fing mit sterbenden Ratten an, und als man in der Stadt Onan unter den Einwohnern kurze  Zeit später 50 Tote zu beklagen hatte, wurde diese wichtige algerische Hafenstadt mit 200.000 Einwohnern von der Präfektur unter Quarantäne gestellt. Macron erließ nun nach rund 150 Toten im ganzen Land eine Ausgangssperre. Im brillanten Roman geschah dies in Onan erst nach drei Monaten Pestepidemie mit über 120 Toten pro Tag. Wer Paris, eine der attraktivsten und meistbesuchten Städte der Welt, kennt, hat eine Ahnung davon, was die Ausgangssperre bedeutet. Es sind gespenstische Bilder einer einstmals pulsierenden Metropole, wie sie sich noch vor drei Monaten niemand hätte vorstellen können.  

Diese Plötzlichkeit der Ereignisse macht uns Probleme und schockiert: „Er (Dr. Rieux, Krankenhaus- Arzt und Erzähler in dem brillanten Roman, d. V.) wußte, es war dumm, aber konnte nicht glauben, dass sich die Pest wirklich in einer Stadt einnisten könnte, in der bescheidene Beamte zu finden waren, die ehrenwerte Marotten kultivieren … und befand, die Pest habe unter unseren Mitbürgern praktisch keine Zukunft.“ (Seite 57) Die Menschen der Stadt Onan mussten bitter erfahren, dass es anders kam.

Die Verhältnisse, die Camus beschrieb, waren äußerst dramatisch. So bedeuteten die verfügten Maßnahmen, die Kranken unverzüglich in speziellen Sälen im Krankenhaus zu isolieren, für die Armen das Todesurteil und lösten Panik aus, denn die Betroffenen ahnten, was ihnen bevorsteht. (Vgl. Seite 72 f.) Und niemand, weder Alte noch Junge, wurde von dem „Dreschflegel“ dieser Seuche verschont, er schlug wahllos und unberechenbar zu.

Wie anders ist es hier in Europa: Hier wird auf hohem Niveau und wirkungsvoller um jedes Leben gekämpft: Man erwartet auch nicht, dass die Hälfte der Bevölkerung der Epidemie zum Opfer fallen wird oder dass wir etwa  mit ähnlich hohen Opferzahlen zu rechnen haben wie bei der letzten fürchterlich grassierenden Pandemie, der Spanischen Grippe, vor fast exakt 100 Jahren. Die „Lungenpest“ (wie sie auch genannt wurde, denn damals hatte man noch nicht die Viren als Verursacher entdeckt) hatte allein in Deutschland mehr als einer halben Million Menschen das Leben gekostet. Dieses verheerende Ausmaß ist z. Zt. zum Glück nicht absehbar.

Corona ist nicht die Pest

Im Jahr 2020 sind wir in vielem weiter, und die Entwicklung ist auf verschiedenen Ebenen dynamischer:

In der Diagnostik – vermutlich wird es in wenigen Monaten effektivere Schnelltests geben, die helfen werden, die Infektionsraten deutlich abzusenken,

in der Behandlung bei schweren Fällen, weil die klinische Ausstattung (zumindest in Deutschland) apparativ vorerst gut und hinreichend ausgestattet ist,

in der Differenzierung der Kontroll-Maßnahmen, um die Ausbreitung der Epidemie einzudämmen und die Krankenversorgung langfristig zu sichern und

bei der Schutzimpfung: Mit neuen, noch vor einer Generation nicht denkbaren Methoden der KI, wobei die Sequenzierung der Gene eine Rolle spielen, wird man vermutlich bis Ende des Jahres Impfstoffe bereitstellen können.

Hier wird sich in der internationalen Kooperation und Solidarität eine neue Qualität beweisen können. Welch ein zivilisatorischer Fortschritt! Das  wollen wir nicht kleinreden.  

La condition humaine auf dem Prüfstand

Endet also hier die Analogie mit dem Roman, dessen Handlung 75 Jahre zurückliegt? Keineswegs, denn der zunehmenden Dramatik folgt dort die menschliche Tiefe, la condition humaine. Sie ist es, die auf dem Prüfstand steht. Weil er gerade nicht belehrend daherkommt, kann uns der Roman ein unvergleichbarer Lehrmeister sein. Seine Figuren und ihre Schicksale haben uns, die nun ebenfalls unvorhergesehenen Gefahren ausgesetzt sind und deren Freiheiten brüsk eingeschränkt wurden, etwas zu sagen, und ihre Schicksale berühren zutiefst. Es geht in dem Roman um schwere Konflikte, um Heldentum (oder auch nicht?), es geht um Angst, Verdrängung, um Alleinsein und Verzweiflung und, was noch schlimmer ist, um die „Gewöhnung an die Verzweiflung“ (Seite 206), aber auch um Freundschaft. 

Das Lesen, auch ein zweites Mal, lohnt sich! Eine Kernfrage schält sich heraus: Kann man überhaupt allgemeine Erkenntnisse aus solchen Katastrophen ziehen, oder muss jeder mit seinem persönlichen Schicksal selbst fertig werden, seinen individuellen Weg finden? Letztlich ja, aber eine Dimension bleibt. Für Rieux geht es in den Stunden der Bewährung um eines: „Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.“ Und sein Gesprächspartner erwidert angesichts dieser lakonischen Einsicht irritiert: „Vielleicht bin ich wirklich im Unrecht, weil ich die Liebe wähle.“ Und Rieux: „Nein“, sagte er nachdrücklich, „Sie sind nicht im Unrecht.“ (Seite 187)

Wer gibt nicht zu, dass unter der Banalität des Alltags in uns viel zu viel verschüttet worden ist. Grund genug, sich einmal zu besinnen. Sich zu vergewissern, Anstand und Liebe wieder substanzhaltig zu machen. Oder haben wir es vielmehr hier mit einem gelegentlich sehr existentiellen Konflikt zu tun: Anstand oder Liebe? Wie gesagt, lesen Sie. Jedenfalls in diesem Spannungsfeld bleibt jeder auf sich selbst zurückgeworfen, dem in unserem mentalen Sediment nachzuspüren, lohnt sich.     

Unschwer ist auszumachen, was in dieser Krise nicht anständig ist: Eine Firma in einem fremden Land aufkaufen wollen, um die Medikamente dann exklusiv nur seinem eigenen Land zukommen zu lassen, solche und noch törichtere Versuche – man mag es bedauern – gehören zum „natürlichen Spiel des Egoismus im Herzen der Menschen“ (Seite 269). Auch Staatsoberhäupter können sich in den Niederungen dieses „Spiels“ verfangen. Aber was ist, wenn ein Land seine eigenen lebensrettenden Medikamente zuerst den eigenen Landsleuten zugutekommen lässt? Diese Szenarien sind in Teilen Realität, aber das Bemühen, es anders zu machen, ist unverkennbar, z. B. wenn asiatische Staaten dem notleidenden Italien mit Hilfsgütern und Personal beispringen.  

Corona – der Name weckt Assoziationen mit einer strafenden Göttin der Antike – scheint noch gnädig: Anders als die Pest verschont sie, soweit jedenfalls aus ihrem bisherigeren Verlauf erkennbar ist, die Kinder, fürchterliche Schicksale bleiben uns daher erspart. Anders als bei der Lungenpest vor 100 Jahren bleiben diesmal auch die 20 bis 40Jährigen weitgehend verschont. Wenn man nun global  zu durchgreifenden Maßnahmen greift, um vor allem die Schwachen und Alten in den Gesellschaften vor Covid-19 zu schützen, dann haben wir es mit einem einzigartigen Paradigmenwechsel zu tun und einer Chance: Wir alle können innehalten und nachdenken, welchen Gewichtungen wir im Leben eine  Bedeutung geben wollen.  

Chronik der Hoffnung?

Fragen der Sinngebung fordern uns heraus, bei denen uns die KI und ein von ihr kreierter Algorithmus nicht werden helfen können – wir lernen, klarer zu sehen.

Die Börse ist in Panik? Nun, davon ließ sich schon der vor einer Generation verstorbene Börsenspekulant Kostolany nicht aus der Ruhe bringen. Das wird schon wieder, so damals seine Botschaft, auch wenn die Erholung der Wirtschaft fünf Jahre dauern sollte. Allerdings greift man diesmal bei Corona in einer bisher nie gekannten Weise in die Realwirtschaft ein, und die sozialen Folgen betreffen mittelbar am Ende gerade auch die sogenannten „kleinen Leute“. Über die Zeit werden massenpsychologisch Reaktionen induziert, die man im Blick behalten und rechtzeitig aufgreifen sollte. Es ist nicht so lange her, da mussten wir mit ansehen, wie eine Welle der Solidarität in relativ kurzer Zeit von einer Gegenwelle der Ernüchterung neutralisiert wurde.

Meine Sorge ist, dass die neuerliche Welle für die Kranken, Alten und Schwachen in Gefahr geraten könnte, ebenfalls an Kraft zu verlieren, wenn der ökonomische Einbruch zu sehr und zu lange auf unsere Lebensverhältnisse durchschlägt. Als Angehöriger der Risikogruppe sehe ich daher auch die Notwendigkeit einer Balance: Die harten Maßnahmen und Einschnitte müssen von der Bevölkerung mitgetragen werden. Die Solidarität ist eine wichtige, kostbare Brücke, aber jede Brücke hat eine begrenzte Tragfähigkeit. Vielleicht ist es jetzt noch zu früh: Aber wir, und jeder Einzelne trägt dazu bei, hätten für die condition humaine epochal viel erreicht, wenn wir nach der Corona-Krise, vielleicht schon Ende des Jahres, als Fazit und rückblickend in die Chronik schreiben könnten: “Die Menschen sind eher gut als böse“ (Seite 150) – klingt banal, ist zu bescheiden? Oh nein, es sollte Hoffnung machen!